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„Wie eine Familie ist man fast ständig zusammen“

„Es ist nichts Verwerfliches daran, Dinge Jahr für Jahr zu wiederholen.“ (Foto: Martin Jehnichen)

Der Dezember ist der intensivste und beschäftigungsreichste Monat für den Kreuzchor. Wir haben uns mit dem Kreuzkantor über einige Traditionen des Chors unterhalten, die die vorweihnachtlichen Konzerte seit Jahrzehnten prägen.

Martin Lehmann, Sie selbst wurden 1983 in den Kreuzchor aufgenommen. Wie haben sich die Weihnachtstraditionen im Chor seitdem verändert?

Meine Kindheit und Jugend sind eng mit dem Kreuzchor verbunden. Der Dezember ist für den Chor der intensivste und beschäftigungsreichste Monat, wie eine Familie ist man fast ununterbrochen zusammen. Als ich das erste Mal wieder hier stand, war ich sehr gerührt. Die Weihnachtsliederabende, die Proben für Vespern und Metten – all das ist im Kern so geblieben wie damals, als ich selbst Kruzianer war. Besonders schön ist es für mich, bei den Drittklässlern, die zum allerersten Mal die Choräle des Weihnachtsoratoriums singen, dieses Lampenfieber zu beobachten. Ich erinnere mich gut daran, dass ich vor vierzig Jahren genauso aufgeregt war.

Das meint man ja beim Weihnachtsoratorium sogar als Zuhörer zu spüren. Da kam es in den letzten Jahren auch schon mal vor, dass einer der Knaben vor Aufregung in die Holzbläser kippte…

„Bestimmte Traditionen habe ich versucht, vorsichtig einzuhegen.“ (Foto: Martin Jehnichen)

Das macht natürlich die für die Knaben ungewohnte Länge des Weihnachtsoratoriums, dieses Durchhalten wollen auch schon in den ersten Orchesterproben: Ich selbst konnte mich damals kaum aufs Singen konzentrieren, weil ich erst mal über die Instrumente im Orchester staunte. Ich erinnere mich auch an die langen Schlangen vor der Kreuzkirche, die haben sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Auch heute ist das nicht anders – Gott sei Dank. Bei den Christvespern trifft man auch nach Jahrzehnten auf dieselben Musikerinnen und Musiker. Es gibt da eine fast ritualhafte Besetzung. Und nach der ersten Vesper lädt die Kreuzkirche als Dank Kreuzkantor und Orchestermitglieder zum Stollen und zum Kaffee ein. Eigentlich erstaunlich, wie wenig sich in diesen Dingen verändert hat.

Welche Erinnerungen an diese Zeit haben Sie sich bis heute erhalten?

Dass sich etwa das Mettenspiel gehalten hat, liegt daran, dass es immer wieder durch die Jungen zum Leben erweckt wird, vom Altarorganisten bis zum Chorpräfekten. Ich schaue heute von oben darauf und denke viel an meine eigene Zeit im Chor zurück, ohne nostalgisch zu sein. In der zwölften Klasse durfte ich im Mettenspiel einen der Könige darstellen. Meine Aufgabe war es, den Weihrauch zu schwenken. Und die Tradition im Kreuzchor lautet: so viel Weihrauch wie möglich! Ein guter Freund von mir spielte den Josef und vergaß in diesen ganzen Nebelschwaden seinen Text. Stattdessen sang er: „Gerne, liebe Maria mein, helf ich dir wiegen mein Kindelein. Liebe Maria, ich hab dich ja so gerne, Amen!“ Wir haben gleichzeitig mit dem Weihrauch und dem Lachen gekämpft – das bleibt mir unvergesslich.

Im Chor halten sich bestimmte Traditionen ja über Jahrzehnte. Da kam es für manche Kreuzchorfans einem Sakrileg gleich, dass Sie letztes Jahr die Anfangszeit des Mettenspiels um eine Stunde nach hinten verschoben haben. 

Zunächst ist es ein großes Geschenk, solch eine Tradition zu haben, die man fortsetzen kann. Nach der zweiten Christvesper am 24. Dezember zieht der Chor traditionell mit Kerzen und Gesang durch das Schulhaus, ehe wir im Speisesaal gemeinsam köstlich essen. Zu diesem Anlass muss ich nun doch einen berührenden Rückblick ansprechen: Vor fast zwei Jahren starb nach schwerer Krankheit leider einer unserer Kruzianer mit gerade 17 Jahren. Kurz vor seinem letzten Weihnachten hatten wir ihn als Chor auf Station besucht und mit all seiner verbliebenen Fröhlichkeit hat er anschließend unseren neuen Viertklässlern ein Video aufgenommen und gesagt: Ihr dürft euch so auf das Weihnachtsfest freuen, denn dieser Gang durchs Schulhaus am 24. Dezember nach den Christvespern, den werdet ihr für immer in eurem Herzen behalten! Diesen Kruzianer und sein Video werde ich tief in meinem Inneren bewahren. 

Aber zurück: In der Christmettennacht, die auf das gemeinsame festliche Abendessen und die Bescherung folgt, versuchen dann viele Kruzianer, im Alumnat zu bleiben. Diese Nacht ist natürlich lang und im besten Sinne traditionell herausfordernd. Es kommt nämlich irgendwann der schwierige Punkt des Zur-Ruhe-Kommens. Alle sind sehr aufgekratzt. Die Männer wollen weiterfeiern, die Knaben sollen schlafen. Das ist heute durch die beiden Alumnatsteile leichter. Trotzdem haben wir in Abstimmung mit der Kreuzkirche die Mette eine Stunde nach hinten verschoben, damit sich alle ein bisschen länger erholen können und die Pause bis zum darauffolgenden Gottesdienst nicht endlos erscheint. Traditionell wecken die Männer die Knabenstimmen mit Gesang, und dann geht es eben neuerdings sieben Uhr los statt früher sechs Uhr.

Gab es auch Traditionen im Chor, die Ihnen nicht mehr zeitgemäß erschienen? 

Als ich als Kreuzkantor nach Dresden zurückkam, war ich über einige Dinge doch erstaunt. Beispielsweise singen die drei Könige als Fernchor in der Vesper eine Strophe aus dem Treppenhaus der zweiten Empore. Da hatte es sich über die Jahre eingeschlichen, dass die Männer von dort mit Wunderkerzen die Aufmerksamkeit des gegenüberstehenden Chores auf der Chorempore anziehen. Die Knaben starrten natürlich nur noch dorthin. Solche Traditionen habe ich versucht, vorsichtig einzuhegen. Von einigen Dingen bekommt die Gemeinde ja gar nichts mit. Am Ende der dritten Strophe von „O du fröhliche“ zum Beispiel dürfen die Jungen in der zweiten Vesper einen großen Schlüsselbund klappern lassen. Es ist doch klar, dass man solche Riten achtet. Aber wir haben auch diskutiert, ob in der Mette ein König weiterhin schwarz geschminkt werden soll. Gemeinsam mit den Jungen haben wir uns auf den Weg gemacht und inzwischen eine gute Lösung gefunden. 

Rudolf Mauersberger hat ja selbst mit einigen Traditionen des Chors gebrochen, hat das Repertoire verändert, Besetzungsfragen variiert und mit verschiedenen Aufstellungen in der Kirche experimentiert. Was meinen Sie: wird der Kreuzchor im 22. Jahrhundert jedes Jahr noch dreimal das Weihnachtsoratorium von Bach singen?

Es sind die verbindenden Riten und Traditionen, die bei den Kruzianern und bei ihrem Publikum lange im Gedächtnis hängenbleiben, und auf die man sich jedes Jahr freut. Aber vielleicht sagt der 30. Kreuzkantor auch irgendwann: Für die Adventszeit habe ich ganz eigene Ideen? Wir gehen derzeit den Weg, traditionelles Liedgut verstärkt auch außerhalb der Kirchenschwelle, etwa im Stadion oder auf dem Striezelmarkt aufzuführen. Vielleicht braucht es irgendwann ganz neue Zugänge, Formate oder auch Strukturen.

„Es sind die verbindenden Riten und Traditionen, die bei den Kruzianern und bei ihrem Publikum lange im Gedächtnis hängenbleiben, und auf die man sich jedes Jahr freut.“ Foto von der jüngsten Aufführung des Weihnachtsoratoriums am 19.12.2025 in der Kreuzkirche: Oliver Killig

Zum Beispiel haben zwei bekannte Knabenchöre vor Kurzem parallel einen eigenen Mädchenchor gegründet – das ist für uns momentan kein Thema, da es einerseits hervorragende Angebote für Mädchen in Dresden etwa im Philharmonischen Kinderchor oder am HSKD gibt, und andererseits aktuell dafür finanzielle, personelle und strukturelle Ressourcen in der Landeshauptstadt fehlen. Natürlich ist es absolut erstrebenswert, dass auch jedes Mädchen, das auf höchstem Niveau singen möchte, ein ebenso professionelles Angebot erhält wie im Dresdner Kreuzchor. Das unterstütze ich ausdrücklich. Tradition muss immer vor dem Hintergrund der aktuellen Zeit betrachtet und auch kritisch befragt werden. Gleichzeitig ist nichts Verwerfliches daran, Dinge Jahr für Jahr zu wiederholen. Man setzt sich doch gern jedes Jahr wieder hin und versucht, tief in die Schlüsselwerke des musikalischen Kirchenjahres einzudringen. Entscheidend ist, gerade in der heutigen schnelllebigen Zeit, die Sehnsucht, die wir stillen: nach Einkehr, Innehalten, Sammeln, nach Stille, nach Meditation. Sonst wären unsere Konzerte nicht so gut besucht – gerade in der Weihnachtszeit.

Vielen Dank für das Gespräch.

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