Ein Jahr vor Kreuzkantor Martin Lehmann trat in Leipzig Andreas Reize das Amt des Thomaskantors an, als achtzehnter Kantor seit Johann Sebastian Bach. Die Parallelen zum Dresdner Kollegen sind augenfällig. Beide Kantoren begannen ihren musikalischen Werdegang in Knabenchören; der Kreuzkantor an seiner heutigen Wirkungsstätte, sein Leipziger Kollege im schweizerischen Solothurn bei den Singknaben der St. Ursenkathedrale. Beide leiteten zuvor namhafte Knabenchöre, beide sind Mitte der 70er Jahre geboren und werden somit aller Voraussicht nach das musikalische Leben der beiden großen Musikzentren Sachsens für Jahrzehnte prägen. Eine gute Gelegenheit also für eine musikkritische Pendeldiplomatie in Sachen Bachpflege, Weihnachtsoratorium und Knabenchorklang!
Dreitausend Herzen flogen den Kruzianern am vergangenen Wochenende in der Kreuzkirche entgegen. Deutlich schwoll der Schlussapplaus, immer wenn es dem Chor galt. Wahrlich ist der Chorklang derzeit voll von festlichem Glanz. In etwas mehr als einem Jahr hat der neue Kreuzkantor viel erreicht. Besonders bei den Knabensopranen wird ein neues Klangbild deutlich hörbar: samtig, homogen und doch klar. Reize verfolgt dagegen am Ort der Uraufführung, der Thomaskirche, eine historisch informierte Interpretation. Man merkte dies sofort an seinen schwungvolleren Tempi, aber auch an den historischen Pauken, die mit prägnant harten Schlägen an ihren militärischen Ursprung erinnern. Die Streicher des Gewandhauses spielen auf modernen Stahlsaiten in heutiger Stimmung und beweisen nachdrücklich, dass es keiner puristischen Definition des Originalklangs bedarf. Hier wird variiert, phrasiert, balanciert, wie man es von den besten Spezialensembles der Alten Musik kennt. Hinter jeder Ecke öffnet sich eine neue Welt voller klanglicher Überraschungen!
Die Dresdner Philharmoniker schienen da nicht so recht zu wissen, wo die klangliche Reise eigentlich hingehen sollte. Romantischer Orchesterklang, barocke Phrasierung oder klangliche Sachlichkeit, wie sie bei Bachinterpretationen vor dreißig oder vierzig Jahren noch die Regel war? Man hört ein bisschen von allem. Auch sonst schien die Kommunikation zwischen Kantor und Orchester nicht ganz reibungslos zu verlaufen: unklare Figuration und wiederholte Temposchwankungen hinterließen ein eher gemischtes Bild im Zusammenspiel mit dem Chor. Was im Vorjahr gepaart mit einer neuen Frische noch den Charm des Neuanfangs hatte, wuchs sich in diesem Jahr in der dritten Kantate zur leichten Irritation aus.
Lehmann stellte den oberstimmen-gesättigten, glänzend polierten Chorklang wie in einer Vitrine aus. Als Solisten standen ihm Generalisten zur Verfügung, die mehrheitlich im klassisch-romantischen Repertoire zu Hause sind. Patrick Grahl, der seine sängerische Laufbahn unter Georg Christoph Biller bei den Thomanern begann, gab einen sachlich rezitierenden Evangelisten, der fest in der mitteldeutschen Bachinterpretation verwurzelt ist und immer wieder an Peter Schreier erinnert. Er macht dies mit einer jugendlich reinen Tenorstimme, die im oberen Register in Geradlinigkeit und Leichtigkeit einem Altus verblüffend ähnelt.
In Leipzig wählte Reize ein Solistenquartett von Barock-Spezialisten und spielte mit ihnen Hörraumoper. Musiziert wird in der Thomaskirche traditionell von der Orgelempore — und nicht wie in Dresden im Altarraum, was zur Folge hat, dass die wenigsten Hörer die Ausführenden sehen können, ohne wild ihre Hälse zu verrenken. Und doch wurden hier akustische Dramen geboten. Joanne Lunn und Lisandro Abadie leuchteten in “Herr, dein Mitleid” alle wollüstigen Anklänge der Brautmystik aus. Gemeinsam pendeln sie gekonnt zwischen Gebet und weltlichem Liebesduett. Silke Gäng betört mit höchster Phrasierungs- und Verzierungskunst in “Schlafe, mein Liebster”. Überhaupt gelingt es diesem Cast, jedes da capo in ein Ereignis zu verwandeln. Nirgends aber wird der Unterschied zu Dresden so deutlich wie bei Mauro Peters Evangelisten. Der Schweizer findet in den Bachschen Rezitativen das große Kino. Er moduliert von tenoraler Italianita zu schmetternder Verkündigung, erlaubt sich Affekte und Emotionen und lässt so ein Krippenspiel als barocke Höroper entstehen. Bach-Verkündigung und Offenbarung!
Getragen wird all dies von einem kongenialen Continuo. Man konnte in Leipzig deutlich hören, dass Bach den Continuoklang vom Bass her denkt. In Dresden wurde der figurierte Bass unisono exekutiert. In Leipzig nutzen der Thomasorganist Johannes Lang, der Lautenist Christoph Sommer und die in Leipzig und Dresden ausgebildete Cembalistin Cornelia Osterwald alle Freiheiten des bezifferten Basses, werfen sich Bälle zu, und spielen mit der Gegensätzlichkeit ihrer Instrumente. Arpeggio himmelan, erdennaher Orgelpunkt. Das ist mitreißend, aufregend, frisch, ganz fern vom Tondenkmal.
Gerade weil Reize einen tönenden Denkmalskult auf ganzer Linie verweigert, dringt er mit seiner Klangkunst-Barockhöroper in ungeahnte Tiefen vor. Das ist jedoch nie effekthascherisch, sondern dramaturgisch en detail durchdacht. Besonders seine Interpretation der zweiten Kantate entspringt, hüpfend-schwebend, aus einer Hirtennacht, die im Schatten das Passionsgeschehen zu erahnen scheint, und erhabene Furcht mit morgendlicher Leichtigkeit mischt. Über die gesamte Kantate kehrt Reize klanglich immer wieder auf diese Weidegründe zurück und hebt die Thomaner im Schlusschoral in einen Himmel ganz ohne Engelssüße – ein spröder erhabener Klang. Wie aus der Ferne erinnern die Bläsereinwürfe an verblasstes Grün, Morgengrauen und an die Hirten.
Interpretationen unterliegen Moden — zum Glück! Und Unterschiede schärfen nicht nur die eigenen Vorlieben, sondern auch das Verständnis für den Möglichkeitssinn musikalischer Werke. Nun ist Geschmack ja etwas sehr Persönliches. Mir wird es in vermeintlich wohltuenden Schaumbädern voller Myrrhe, Weihrauch und Lavendel gewöhnlich schnell langweilig. Mich finden Sie nächstes Jahr um den dritten Advent herum wohl wieder in Leipzig.
Besuchte Aufführungen: Leipzig 15. Dezember; Dresden 17. Dezember
Der MDR hat die diesjährigen Konzerte des Thomanerchores aufgezeichnet und wird sie am 22. Dezember 2023 um 20 Uhr auf MDR Kultur übertragen.
Titelcollage von Patrick Grahl und Mauro Peter unter Verwendung zweier Fotos von Kirsten Nijhof (P.G.) und Christian Felber (M.P.).