Scroll Top

Geister, die sie riefen

Fotos (2): Stephan Floss

Schubert, Cave und Hübner: Das Ensemble Resonanz, das Trio Bica/Andrzejewski/Kalima und der Schauspieler Charly Hübner verknüpften bei den Dresdner Musikfestspielen „The Mercy Seat“ mit der „Winterreise“

Nein, ein Peter Schreier will aus Charly Hübner nicht mehr werden. Das hat der renommierte 51-jährige Theater- und Filmschauspieler nicht vor. Da muss niemand Understatement betreiben. Obschon er, wie Hübner gestand, ein paar Gesangsstunden genommen hätte, bevor aus der fixen Idee in seinem Kopf ein Bühnenkonzept wurde. Franz Schubert interpretieren und Nick Cave. Zusammen, weil sie beide vom Schmerz Ahnung haben, von bitterer Liebe, Einsamkeit, Versuchung und vom Sehnen und dem Trost nicht minder. Und wenn nicht einmal sie selbst, dann diejenigen, die etwas aus ihnen machen.

2018 brauchten die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern zum 800. Stadtgeburtstag Rostocks ein Highlight. Damals hieß das Ganze noch »Mercy Seat – Charly Hübners Winterreise«, war aber dort bereits als Séance angelegt. Ein feiner und, wie sich herausstellen sollte, noch immer passender Begriff für diese Erweckung. Geister, die sie riefen, konnten alsbald beschworen werden. Charly Hübner, der gebürtige Neustrelitzer und mit dem Herzen stets dort Gebliebene, hatte das seit fast 30 Jahren bestehende und über 20 davon in Hamburg residierende Ensemble Resonanz angesprochen. Wie es wohl wäre, wenn der von Wilhelm Müller in Text gesetzte Wanderer aus Franz Schuberts »Winterreise« mit einem zum Tode verurteilten Straftäter eine eigene Biografie bekäme. Deutungen gab es in der bald 200 Jahre währenden »Winterreise« jede Menge – Schubert schrieb sie 1827, Müller hatte die Texte nur wenige Jahre zuvor veröffentlicht. Wer er denn sei, dieser Wandersmann, wurde vielfach orakelt. Vielleicht überhaupt kein Wandersmann? Jetzt gar ein Mörder? Nahezu völlig frei von Schuld sogar, wie er selbst zu sagen pflegt. Jemand, dem das Antlitz von Jesus auf der Haut seiner kargen Suppe erscheint. Einer jedenfalls, der sich auf der death row seines Lebens befindet mit dem elektrischen Stuhl im Visier, war als Winterreisender bis dato noch nicht dabei.

»The Mercy Seat« erschien 1988 auf dem Album Tender Prey von Nick Cave & The Bad Seeds und hat ikonischen Charakter für die gesamte Karriere des Australiers, seiner so treuen Gefährtenband und deren Fans. Allein das Video zum Song – instant classic! Cave selbst spielt noch heute immer wieder neue Variationen. Als Johnny Cash das Stück dann für seinen etwas länger währenden Abgesang aufs Leben nochmals hernahm und für »American III – Solitary Man« adaptierte, bekam es eine weitere Perspektive. Die wiederkehrende Zeile „I’m not afraid to die“ war von plötzlich seltsamer Milde umzogen. Charly Hübners Todeskandidat hingegen hat vor allem Zorn im Ton, fast Hohn gegenüber dem nahen Ende.

Der ausverkaufte Musikfestspiele-Abend in Hellerau, wo »Mercy Seat – Winterreise« nach einer der unregelmäßigen Pausen die nächste umjubelte Aufführung erlebte, zeigte gediegen austarierte Routine im 20-köpfigen Ensemble, die nie ins Abgeklärte kippte. Für diesen Eindruck hätte es das „O, jetzt bin ich raus“ von Charly Hübner ganz am Schluss nicht gebraucht, als ihm kurz der Text abhanden kam. Gottlob, es war nur die abgerungene Zugabe. Tobias Schwencke hat für das Konzertprogramm und die 2019 eingespielte CD homogene Arrangements geschrieben, die die thematische Verknüpfung aus jetzt 15 (von 24) Liedern der »Winterreise« mit den musikalischen Strukturen dreier Songs aus dem üppigen Repertoire von Nick Cave & The Bad Seeds herstellen (Klangregie: Sebastian Schottke). Neben »The Mercy Seat«, das als Klammer hier zweifachen Einsatz fand, erklangen »Sweetheart Come« (von No More Shall We Part, 2001) und »Where The Wild Roses Grow« (von Murder Ballads, 1996). Mit Streichern, nicht allein durch die ausdauernde brüderliche Zusammenarbeit mit Geiger Warren Ellis, kennt sich Nick Cave längst bestens aus.

Gerade zu »Where The Wild Roses Grow« bekommt man die Bilder des Videoclips – Nick Cave mit Kylie Minogue am Wasser – nur schwer aus dem Kopf. Mit Hübner wird es nüchterner, obwohl man als Cineast auch hier zunächst ein paar seiner nachdrücklichsten Rollen durchspielt, bevor man den adäquat in Schwarz gewandeten Interpreten auf »Winterreise« ins Innere seiner Figur entlässt. Sicht- und hörbar fühlt sich Hübner mit Cave gesanglich besser aufgehoben, doch am Ende wird auch die Mischung aus gesprochenen, sprechgesungenen und, im Rahmen der Möglichkeiten, wirklich gesungenen Zeilen funktionieren. Der künstlerische Ansatz, einen Schauspieler in ein musikalisches Programm zu betten, ist beileibe nicht neu und durchaus vergleichbar mit dem Auftritt von Bill Murray und dem Jan-Vogler-Trio vor sieben Jahren, ebenfalls bei den Musikfestspielen. Behutsam und dezent arbeitet auch Charly Hübner mit eher zurückgenommenen Gesten, zudem gern mit Pausen, ist hier sehr direkt am Wort, greift dort offensiver gestaltend ein. Und manchmal genügte es einfach, dass er stand. Nahezu bewegungslos, kaum atmend, vom Lichtspot über ihm geröntgt.

Das Ensemble Resonanz war an diesem Abend mit 16 Streicherinnen und Streichern besetzt. Hinzu kam mit Carlos Bica (Kontrabass), Max Andrzejewski (Drums) und Kalle Kalima (E-Gitarre) ein dem Jazz und experimentellen Artrock zugewandter Dreier. Fusionierend und fließend in des Wortes ureigener Bedeutung zeigten Schwenckes Bearbeitungen des Schubertschen und Caveschen Materials die famose Kraft und Virtuosität des freigeistigen Kammerorchesters als Solitär sowie den Zugewinn beim Zusammenspiel mit dem Trio hin zu einem neuen, eigenständigen Liederzyklus. Das Klangbild hatte Druck wie auch fragile Strukturen, schlichte Schönheit wie wilde Energie. Höhepunkte? »Der Lindenbaum« wird astrein und mehrstimmig im Kollektiv gesungen und zwar auf Plattdeutsch mit mecklenburgischer Färbung. Aus »Erstarrung« und »Rückblick« mit »Gefror’nen Thränen« öffnet sich der selbst für diesen besonderen Reisenden so tröstliche Mittelteil aus Caves Liebesballade »Sweetheart Come«, einem brückenartigen »Irrlicht« hin zum melancholisch-schwebenden Adagietto aus Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 5 cis-Moll, wo auch Charly Hübner und Bica/Andrzejewski/Kalima „nur“ Hörende und Berührte werden dürfen, bevor Kalimas Solo-Gitarre Hübners Stimme zur Mördermär am Fluss geleitet.

Gustav Mahler? Auch so einer, den Charly Hübner in einem Gespräch mit dem Autor im großen Blues-Gewässer verortet: „Letztlich landet alles beim Blues. Hier treffen sich Dur und Moll. Alles, was das Leben in sich trägt, ist im Blues zu finden und es gibt erstaunliche Parallelen hin zur Klassik. Als Jugendlicher brauchte ich dringend ein phonetisches Signal, das sich von den Schlagern aus dem Kassettenspieler im Saporoshez meiner Eltern absetzte und es kam von AC/DC und Motörhead. Die und noch ein paar andere haben mich dann in den Blues-Ozean geführt, wo sie alle versammelt sind: Elvis, Robert Johnson, Mahler, Mozart, Schubert und Haydn.“ Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Charly Hübner sein Zitat an dieser Stelle mit einem für ihn typischen Grinsen beendete.

Das, was er mit dem Ensemble Resonanz und Bica/Andrzejewski/Kalima erschafft, nennt er selbst „hybrid krude“. Keine Fremdkörper begegnen sich hier, an den Haaren herbeigezogen werden Allegorien und mystische Linien zwischen Schubert und Cave samt Bruder Mahler ebenfalls nicht. Und wenn sich nach all den Krähen und Nebensonnen und dem finalen Blick auf den Todesstuhl ein letztes kammerorchestrales Crescendo erhebt, das psychedelisch schwer nach Pink Floyd klingt, ist alles bereitet für den Weg dorthin, wo »Der Wegweiser« Richtung Heimat zeigt.

Am 31. August 2024 erscheint „Wild God“, die neue CD von Nick Cave & The Bad Seeds

Verwandte Beiträge