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Ein Höllenspaß

Auch Frankreich hat Visionen, um gleich einmal das Motto der diesjährigen Dresdner Musikfestspiele in Erinnerung zu rufen. Surrealismus, Grand Opéra und Impressionismus sind undenkbar ohne Visionen, wobei die Verbindungslinien zur Fantasie und zum Fantastischen bei den Franzosen immer fließend sind. Dafür kann man sie bewundern, und das kann man sogar hören. Dementsprechend dankbar und vorfreudig war man beim zweiten Auftritt des Dresdner Festivalorchesters im Kulturpalast am Himmelfahrts-Feiertag, auf dem Menu: Werke von Ernest Guiraud, Camille Saint-Saëns und Hector Berlioz.

Moment, wer ist denn Ernest Guiraud? Tatsächlich, die Musikgeschichte hält doch immer noch Spannendes parat, und auch diesmal war die Wiederentdeckung eben nicht aus der Kategorie „zu Recht vergessen“. Stattdessen staunte man über die 1887 uraufgeführte sinfonische Dichtung »Chasse Fantastique«, die den Hörer mit einer imaginären Jagdgesellschaft (und Victor Hugo) in die Wälder entführt. Zugegeben, natürlich hört man die Berlioz’sche Instrumentationskunst heraus, auch Franck oder d’Indy, aber das ist alles so glutvoll und auch glutvoll musiziert, dass man fast schmunzeln muss, wie sich die Musiker in diese Geschichte hineinlegen.

Und das sind natürlich nicht irgendwelche, denn das Dresdner Festspielorchester, das sich nun einmal den Stempel und die Herausforderung des Originalklanges auf die Fahnen geschrieben hat, versammelt für seine Konzerte Experten aus aller Welt, Solisten wie Orchester- und Ensemblemusiker. Und in Dresden wird dann an Klang und Werken gefeilt – nicht bis zur Perfektion, die ist beim Thema Originalklang ohnehin obsolet und immer neu diskutabel, sondern eher bis zur „Vision“ eines Klanges.

Jan Vogler, Constantinos Carydis und das Dresdner Festspielorchester (Fotos: Oliver Killig)

Diesen beförderte im Konzert der agile griechische Dirigent Constantinos Carydis, der für Stéphane Denève eingesprungen war, in idealer Weise. Er ließ den Musikern viel Freiraum, zeigte aber mit flächiger Gestik der Arme eben auch, wie ein Tutti wirklich körperlich groß werden kann. Jan Vogler war dann der Solist im 1. Cellokonzert a-Moll von Camille Saint-Saëns, ein äußerst effizientes Stück Musik, das auf knappstem zeitlichen Raum eine ganze Wundertüte an Melodik und Virtuosität ausschüttet.

Diesem Geschenk nahm sich Jan Vogler natürlich dankbar an und startete beinahe jagd-wild den Charakter des vorangehenden Stückes übernehmend in den 1. Satz. Auch im weiteren Verlauf des Konzertes stellte er sich der Herausforderung mancher Grenzbereiche der Tempi, um damit maximalen Ausdruck zu erreichen. Damit stieg – samt Darmsaitenunwägbarkeiten – allerdings auch das selbstgewählte Risiko in der Deutlichkeit und Sauberkeit des Celloklangs, der sich am schönsten in den mittleren Passagen des Konzerts entfaltete, wenn Vogler in tiefen Lagen das Instrument mit Wärme und klanglicher Sattheit versah. Die vielen virtuosen Finessen, Figurenwerk und Läufe erreichten jedoch im Klangergebnis schlicht ein suboptimales Level. Schwelgend schön dufte man sich dann anschließend aber in der Zugabe, im „Schwan“ aus dem berühmten »Karneval der Tiere« baden.

Wimmelbild Berlioz-Konzert

Im zweiten Teil des Konzerts füllte sich die Bühne für Berlioz‘ »Symphonie Fantastique« und die Aufführung wurde genau das, was man sich gewünscht hatte: ein Originalklang-Leckerbissen samt einer saftig-zupackenden Interpretationsauffassung, die nicht nur den Höllenspaß am Ende garantierte, sondern gleich zu Beginn den Hörer in einen Sog von Intensität katapultierte: den ersten Satz »Rêveries, Passions« habe ich wohl selten so mutig langsam und dennoch derartig fein ausgemalt gehört. Carydis sortierte die Stimmen flexibel, musizierte den Ball mit sanfter Übertreibung und bot Berlioz Partitur als mit jeder Seite neu faszinierendes Wimmelbuch an.

Fast hätte man gemutmaßt, die Streicher wären für dieses Stück etwas knapp besetzt, aber was die Damen und Herren für einen Klang entfachten, war – auch ohne vom Komponisten ins Feld geführte Opiate – berauschend und setzte sich in solistischen Leistungen wie den Betörungen von Oboe und Englisch-Horn in der Szene auf dem Lande oder im adäquat übergeschnappten Klarinetten-Solo im letzten Satz fort. Der »Gang zum Richtplatz« mit großartiger Marschcharakteristik und der Hexensabbat mit Glocken von der Empore sowie einem krassen Blechbläserensemble mit stilechtem Serpent und Ophicleiden war dann ein herrlicher Spaß, bei dem Carydis der Exzentrik des Komponisten auch im den letzten Takten noch einen augenzwinkernden Turbo zum Rausschmiss verpasste. Fantastique!

  • Deutschlandfunk Kultur sendet das Konzert am 4. Juni um 20.03 Uhr

Nachbemerkung: Getrübt wurde das Musikerlebnis im ersten Teil, aber auch etwa bei der sehr leisen „Szene auf dem Lande“ von Berlioz durch Musiklärm und permanente Bässe von der Bühne des CSD (Christopher Street Day) auf dem Altmarkt, deren Lautstärke der Saal nicht mehr absorbieren kann – es war so laut, dass selbst ein Besuch auf dem Kulturpalastbalkon in der Pause unmöglich war. Es ist ärgerlich, dass CSD-Verein, Dresdner Musikfestspiele und die Stadt Dresden nicht im Voraus zu einer Abstimmung für diese zwei Stunden am Abend gekommen sind.

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