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Mikrotonales Maxiereignis

Fotos (2): Milan Mošna, Festival Prager Frühling

Noch ist Georg Friedrich Haas Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Musik des österreichischen Komponisten erklang gerade auch im nahgelegenen Prag.

Seine Kür als aktueller Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle hat Georg Friedrich Haas bereits absolviert. Da gab es nach einem herbstlichen Kammerabend mit der Uraufführung seines Trios für Bassklarinette, Klangwerk und Violoncello ein bewegendes Sonderkonzert im Festspielhaus Hellerau, bei dem mit »in vain« eine musikalische Stellungnahme zum österreichisch-europäischen Rechtsruck zu hören war. Den (vorläufigen) Schlusspunkt setzte im April das Jill Carter und Viola Johnson gewidmete Orchesterwerk »I don’t know how to cry«, ein Bekenntnisstück gegen die Macht der US-amerikanischen Waffenlobby.

Haas ist ein Mann, der sich einmischt und engagiert seine Stimme erhebt. 1953 in Österreich geboren, in eine betont nationalistisch gesinnte Familie hinein, hat seine Zeit gebraucht, um sich aus dieser indoktrinierten Fessel zu befreien. Zeugnis davon legt er in seinem schonungslos offenen Buch »Durch vergiftete Zeiten – Memoiren eines Nazibuben« ab.

Wer nun aber nach den Dresdner Konzerten des Capell-Compositeurs Musik von Georg Friedrich Haas erleben wollte, erhielt kürzlich beim Festival Prager Frühling Gelegenheit dazu. In zwei aufeinanderfolgenden Aufführungen gab es dort im modernen Forum Karlín »11.000 Strings« (»11.000 Saiten«), ein im August 2003 in Bolzano herausgekommenes und wenig später beim Festival »Wien modern« im Konzerthaus wiederholtes Werk für sage und schreibe fünfzig Klaviere. Vierhändige Konzerte sind angesichts dieser Musik für einhundert Hände von nun an also ein Kinderspiel. Zumal neben dem halben Hundert Pianistinnen und Pianisten auch noch eine ganze Reihe von Orchesterinstrumenten sowie jede Menge Schlagwerk gefragt war. Musikerinnen und Musiker vom Klangforum Wien übernahmen diese Parts. Gesteuert wurde die sechsundsechzig Minuten umfassende Performance per Timecode, der Großbildschirme mit den auf Tablets notierten Stimmen verband. Ein wichtiger, für den seine eigenständigen Klangwelten immer wieder aus Mikrointervallen schöpfenden Meister bedeutsamer Aspekt ist die um eine minimale Tonhöhe verschobene Stimmung der fünfzig Klaviere, die übrigens werbewirksam vom chinesischen Hersteller Hailun zur Verfügung gestellt worden sind.

In der riesigen Halle sitzt das Publikum entweder auf zwei Rängen um das Spektakel herum oder aber zu ebener Erde mittendrin in den Klangwelten des Georg Friedrich Haas. Hier war ein Eintauchen möglich, konnte (gern auch mit geschlossenen Augen) in Musik gebadet werden. Das war kein esoterisches Entrücktsein, vielmehr wurde das Publikum mitgerissen in die Strudel und Kaskaden aus Harvenrausch, Posaunentösen und Streicherflirren. Die pianistischen Kleinstintervalle wuchsen zu großen Klangräumen heran, entfalteten sich geradezu aufblühend, um dräuend wie Wolkenschleier ineinander überzugehen und das gesamte Forum Karlín in ein schier unerschöpfliches Tongefäß zu verwandeln.

Raumfüllend wabernd mischte sich Schlagzeugsound dazu, donnernd tosende Eruptionen brachen da aus, frei von jedweden Wiederholungen kam es zu immer neuem Wetterleuchten. Als wäre die Zeit aufzuhalten, wechselten Turbinentöne mit Sehnsuchtsschwingen, gab es besonntes Grashalmwogen und bienenhaftes Flügelpeitschen, ein abgründig auferstehendes Wellenmeer. Orgiastischer Orchesterklang und Passagen voller Poesie verschmolzen zu einem breiten Spektrum (künstlerischer) Naturgewalten, die körperlich spürbar miterlebt werden konnten.