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„In der Musik zählt nur die Qualität“

Fabio Luisi beim Eröffnungskonzert der Dresdner Musikfestspiele am 19. Mai 2025 im Kulturpalast. Foto: Oliver Killig

Fabio Luisi, am 18. Mai werden Sie mit dem japanischen NHK Symphony Orchestra zum ersten Mal in Dresden gastieren. Seit drei Jahren amtieren Sie als Chefdirigent dieses Orchesters. Wie würden Sie seinen Klang beschreiben, vielleicht im Vergleich mit „Ihren“ beiden anderen Orchestern in Kopenhagen und in Dallas?

Interessante Frage. Fangen wir einmal mit den Kopenhagenern an, denn das Dänische Radio-Sinfonieorchester hat mehrere interessante Verbindungen zu Dresden, wie Sie gleich sehen werden. Es feiert dieses Jahr sein einhundertjähriges Jubiläum und hat quasi deutsche Wurzeln: im ersten Jahrzehnt seiner Existenz gab es eine enge Kooperation mit Fritz Busch – den kennt jeder Dresdner. Diese fruchtbare Zusammenarbeit erstreckte sich bis in die Jahre, als er emigrieren musste. In den dreißiger Jahren wandelte sich sein Klang durch die Zusammenarbeit mit dem Ukrainer Nikolai Malko, der Schostakowitschs Erste und Zweite Sinfonie uraufführte und später in den Westen ging. Malko hatte einen guten Ruf als Orchestererzieher, aber nicht nur das: er war ein Verfechter der zeitgenössischen Musik. Das Kopenhagener Orchester gewann damals ein Renommee als „bestes russisches Orchester in Europa“. Das erwähne ich, weil wir beim NHK gleich auf diese Etiketten zurückkommen werden.

Tatsächlich bleibt das Orchester bis heute sehr versiert im slawischen Repertoire. Nach Malko gab es eine lange, fruchtbare und erfolgreiche Kooperation mit vielen russischen und sowjetischen Dirigenten, mit Kurt Sanderling, Mariss Jansons, Yuri Temirkanow… 1967 wurde Herbert Blomstedt Chefdirigent und blieb elf Jahre. Nach ihm wurde das Orchester ein Spielball der Politik. Viele Rundfunkorchester sind dieser Gefahr ausgeliefert, auch meinem Leipziger Orchester ist das passiert. Aber nach einigen bewegten Jahren gab es Impulse, das Orchester wieder mehr in das Licht der Konzertöffentlichkeit zu bringen. 2012 wurde Rafael Frühbeck de Burgos zum Chefdirigenten ernannt. Er setzte exzellente Impulse im deutschen Repertoire. Nach seinem Tod kam das Orchester dann an mich. Wenn ich mich richtig erinnere, debütierte ich dort 2010 mit Mahlers Erster Sinfonie.

Nun, wie soll ich den Klang des DNSO charakterisieren? Es spielt als Rundfunkorchester eine extreme Repertoire-Breite. In Kopenhagen sind neuerdings Konzerte mit Filmmusik und sinfonischer Musik für Computerspiele sehr erfolgreich: Es gibt unglaublich viele Menschen, die in diese Konzerte kommen. Mein Gott, ein Zeichen unserer Zeit.

Da fühle ich mich gleich an den Film „Tár“ erinnert. Wer komponiert solche Musik eigentlich?

Ich kenne einige, davon einen Cellisten des Metropolitan Orchesters. Er hat vor fünf, sechs Jahren aufgehört, im Orchester zu spielen, und sich dieser Musik gewidmet. Auch Jingles komponiert er, glaube ich. Aber zurück zum Klang: das Orchester hat exzellente Holzbläser. Die Schönheit des Streicherklangs war früher nicht gerade seine Stärke, aber ich glaube, daran haben wir gut gearbeitet und viele Verbesserungen erzielt. Unsere jüngste Europatournee mit Mahler, Nielsen und Rachmaninow wurde sehr gut besprochen.

Nun aber nach Japan! Auch das NHK wurde als Rundfunkorchester gegründet, ein Jahr später als das DNSO…

…und auch dieses Orchester hatte immer schon eine stetige und enge Verbindung mit deutschen Dirigenten. Deshalb galt das NHK immer als „das beste deutsche Orchester in Asien“. Mit dem NHK stehen Namen wie Wolfgang Sawallisch oder Otmar Suitner in Verbindung – beide waren meine Mentoren! Ich habe angefangen, 1988 in Berlin zu dirigieren, als Suitner dort noch GMD war, und in München schon 1989 mit Sawallisch als GMD –, aber auch mit Horst Stein oder Herbert Blomstedt. Unter solchen Dirigenten sammelten die Musiker Erfahrung mit dem deutschen Repertoire, das unter Charles Dutoit, Vladimir Ashkenazy und Paavo Järvi, meinen drei Vorgängern, im slawischen und französischen Bereich erweitert wurde. Dennoch ist das NHK ein Orchester, das sich noch immer bei Bruckner, Mahler und Brahms zuhause fühlt. Und ich? Ich fühle mich zuhause mit ihnen. Obwohl Italiener, ist meine Schule ja eher eine mitteleuropäische. Das Orchester wollte gern zu diesen Wurzeln zurückkommen. Tatsächlich spielen wir viel Bruckner, Mahler, Brahms, Schumann und Schmidt. Zum Mahler-Festival nach Amsterdam ist das NHK als erstes asiatisches Orchester eingeladen, eine tolle Anerkennung. Und in Dresden werden wir Mahlers „Vierte“ spielen.

Mich interessiert noch Ihr dritter Klangkörper, das Dallas Symphony Orchestra, das Sie als Nachfolger Jaap van Zwedens leiten. Der ging aus Dallas nach New York, wechselte letztes Jahr nach Seoul und übernimmt demnächst das Orchester von Radio France in der Nachfolge von Marek Janowski und Myung-Whun Chung… Was für klingende Namen auch hier!

Das Orchester in Dallas ist das älteste meiner drei Orchester. Es feiert dieses Jahr schon sein 125jähriges Jubiläum. Als es 1900 als erstes texanisches Orchester gegründet wurde, hatte es 32 Mitglieder und entwickelte sich schnell. Seine goldene Zeit waren die Achtziger Jahre mit Eduardo Mata. Es wurde von der Plattenindustrie geliebt und hat viele Aufnahmen mit RCA gemacht. Dann kamen irgendwann administrative Leitungsprobleme, bis das Orchester mit Jaap wieder einen Aufschwung nahm. Ich bin ein anderer Dirigententyp als Jaap, aber er hat sehr europäisch und intensiv gearbeitet und mit den Musikern ein sehr gutes technisches Niveau erreicht. Mein erstes Konzert in Dallas war „Heldenleben“ und nach ein paar Monaten Beethoven 7. Musikalisch war das damals ziemlich steif, amerikanisch, vertikal, präzise, aber mit sehr wenig Selbstbewusstsein und Selbstverständlichkeit im musikalischen Ausdruck. Das Orchester war nicht gewohnt, frei zu musizieren. Daran arbeiten wir bis heute, in meiner sechsten Saison. Wir wurden natürlich auch von Covid getroffen, aber Dallas war das einzige Orchester, das nach kurzer Schließung mutig in kleiner Besetzung weitergespielt hat. Das war sehr interessant, weil wir ein ganz anderes Repertoire machen mussten, und es hatte auch seine Vorteile: die Musiker mussten sich gegenseitig besser zuhören! In Dallas arbeiten wir an der Phrasierung, am Klang, an solchen Dingen, die vielen Zuhörern vielleicht nicht so bewusst oder wichtig sind, die aber für die musikalische Gestaltung hohe Priorität haben.

Faszinierend, wie verschieden die dirigentischen Anforderungen an diesen drei Orten sind. Und irgendwie verrückt, dass Ihre Zeit als junger Dirigent in Leipzig fast dreißig und Ihre Zeit in Dresden schon wieder fast zwanzig Jahre her sind. Welche Bedeutung hatte Ihre „mitteldeutsche“ Periode in Ihrer Karriere?

Da müssen wir eigentlich noch einen weiteren Schritt zurückgehen, nach Wien. Ich bin meinem ersten Orchester, den Tonkünstlern, sehr dankbar. Es ist nicht das erste Orchester der Stadt, das wissen wir – aber das einzige, das ausschließlich sinfonische Musik spielt. Diese Tradition prägt die Tonkünstler wie kaum ein anderes Orchester, und viele große Dirigenten sind, als sie jung waren, bei den Tonkünstlern aufgetreten. Von diesem Orchester habe ich sehr viel gelernt. Das ist dann weitergegangen in Genf und in Leipzig, wo ich lange blieb: von 1996 bis 2007. Mit einem sehr eklektischen Repertoire übrigens. Die Mischung in Leipzig war lustig: italienische Operette, Kagel, zeitgenössische DDR-Komponisten, sehr viel Mendelssohn, Brahms und Mahler, alle Schmidt-Sinfonien. Und natürlich hatte ich in Leipzig auch einen hervorragenden Chor zur Verfügung. Aber auch bei den Wiener Symphonikern, wo ich acht Jahre blieb, und bei der Dresdner Staatskapelle habe ich selbstredend sehr viel gelernt.

Täusche ich mich, oder sind diese langsamen Stufe-für-Stufe-Dirigentenkarrieren wie die Ihre inzwischen eher selten geworden?

Ich bin tatsächlich einer der letzten Dirigenten, die so eine altmodische Bilderbuchkarriere gemacht haben. Ich denke an die Lebensläufe von George Alexander Albrecht, Christian Thielemann, zuletzt Kirill Petrenko… Wir alle haben am Theater angefangen. Daniele Gatti übrigens nicht! Er ist ein hervorragender Dirigent, ist aber schon sehr jung sofort als Orchesterdirigent aufgetreten. Wir anderen waren im deutschsprachigen Raum alle jahrelang Korrepetitoren. Wir haben von der Pike auf gelernt, wie das Dirigieren funktioniert, Schritt für Schritt. Ist der GMD krank geworden, sind wir eingesprungen, und so weiter. Das war die Karriere, die vor uns auch Herbert von Karajan oder Karl Böhm gemacht hatten.

Heute ist das ganz anders. Wie soll ich das beschreiben: wir leben in einer sehr visuellen Zeit. Wie jemand aussieht und sich präsentiert, ist immer wichtiger geworden. Leider ist dabei die objektive Qualität – eben das, was den Beruf eines Künstlers ausmacht, sei es Erfahrung, Tiefe, Reflexion – sekundär geworden. Das sieht man auch an der Schnelllebigkeit vieler Karrieren, sowohl bei Dirigenten als auch bei Solisten oder Sängern. Manche Künstler werden sehr jung sehr hoch gepusht und dann nach wenigen Jahren einfach verschwunden. Das ist schlimm für sie, aber auch für das Verständnis unseres Berufs. Der darf nämlich nicht schnelllebig sein, geht er doch mit dem Verständnis von Musik und Leben Hand in Hand. Da sollte nicht zählen, ob jemand jung und toll und gut ist, sondern: wie verstehe ich die Musik, und wie kann ich das vermitteln? Wie verhalte ich mich gegenüber meinen Kollegen im Orchester? Als Klaviersolist arbeite ich allein, ich habe kaum Kontakt zum Orchester. Aber als Dirigent bin ich jede Woche stundenlang mit hundert Menschen zusammen und muss sie überzeugen. Wenn meine Ideen nicht greifen, bin ich verloren.

Nicht nur die Orchestermusiker, auch das Publikum lässt sich ja gern visuell verführen.

Für junge Dirigenten ist das schwer: da sind die hundert Musiker, die das, was du zum ersten Mal machst, schon x-mal gespielt haben. Und ich soll denen was beibringen? Diese Demut, die ich hatte, als ich angefangen habe; dieser Respekt für die älteren Musiker, das ist im Verschwinden. Und für das Publikum spielt Social Media eine große Rolle. Gerade hatte ich ein interessantes Gespräch mit Leuten aus dem Touring-Business; wir sprachen über Solisten. Sie sagten mir ganz klar: diejenigen, die die Karten verkaufen, sind die, die auf Instagram sind. Ich hatte denen für die nächsten Projekte Pianisten vorgeschlagen, die meiner Meinung nach hervorragend sind: Yefim Bronfman, Emanuel Ax. Nein, sagten sie, das funktioniert nicht. Die Leute kennen die einfach nicht.

„In unserem Beruf, hoffe ich, überzeugt unsere Qualität…“ Der Dirigent mit dem Cellisten Jan Vogler (Foto: Oliver Killig)

Und das Auge hört heutzutage mit, sozusagen.

Ja, genau. Und da geht es auch um das Geschlecht. Marie Jacquot, meine ehemalige ein-Semester-Studentin aus Wien, heute Chefdirigentin der Dänischen Oper und bald auch des WDR Sinfonieorchesters, oder Karina Canellakis, in den zehner Jahren Assistentin in Dallas und heute Chefin beim Radio Filharmonisch Orkest, das sind zwei extrem talentierte Dirigentinnen, die ihre Karriere voll verdienen. Viele andere aber dirigieren nur, weil sie Frauen sind und es offensichtlich eine Quote gibt, das muss gesagt werden. Ich kenne viele junge männlichen Dirigenten, die besser sind, die aber einfach nicht diesen Hype erfahren, und dadurch nicht zum Zug kommen. Das finde ich ungerecht. Gut zu sein, hat doch nichts damit zu tun, ob du Mann oder Frau bist, wie deine sexuelle Orientierung ist, woher du kommst oder deine Hautfarbe. In der Musik zählt nur die Qualität.

Das klingt ernüchtert.

Ich klinge schon ein bisschen wie ein Dinosaurier. Bis vor zehn Jahren war ich noch der „jung wirkende Dirigent Fabio Luisi“… Und jetzt? Bin ich, so las ich es kürzlich, ein „Veteran Conductor“. Es gibt noch solche Dirigenten wie mich, aber wir werden nicht ‚gehypt‘. Gottseidank! In unserem Beruf, hoffe ich, überzeugt unsere Qualität, die Dauer, die wir uns schon in diesem Sektor der „Industrie“ bewegen. Das ist doch, was zählt.

Da interessiert mich jetzt: wenn Sie und ich auf Herbert Blomstedt blicken, der im Juli 98 Jahre alt wird, haben Sie mit ein bisschen Glück noch weitere dreißig Jahre ausgefüllten Dirigierens vor sich. Was reizt Sie noch?

Ich gestehe Ihnen was. Nach neun GMD-Jahren am Opernhaus in Zürich wollte ich keine Oper mehr machen. Es desillusionierte mich, wie viele Regisseure arbeiten, wie einige Sänger sich benehmen. Aber: die Oper fehlt mir! Sie ist eine meiner ersten Leidenschaften. Nun arbeite ich dort, wo das Projekt interessant, wo die Qualität ausreichend ist. Darüber hinaus… (überlegt lange) habe ich keine Ziele. Ich möchte dort dirigieren, wo ich das Gefühl habe, ich kann etwas sagen, wo ich ernsthaft mit dem Orchester und den Sängern arbeiten kann. Ich arbeite gern zyklisch mit einem Orchester, das ich gut kenne, entwickle Projekte über eine längere Zeit. Das Leben eines jetsettenden Conductors möchte ich nicht führen: jede Woche ein anderes Orchester, ein anderes Programm. Das hat mich nie interessiert. Dass ich Chef dieser drei Orchester bin, zeigt doch, dass ich kontinuierlich arbeiten will. Ich will, dass die Klangkörper mit mir eine Persönlichkeit entwickeln! Und das muss nicht meine sein, sondern ihre. Dallas, Kopenhagen und NHK haben nicht die gleichen Ziele. Ich muss das erkennen, pflegen und verstärken.

Träumen Sie noch von Werken, die Sie gern mal wieder oder überhaupt zum ersten Mal machen würden?

Natürlich! Ich habe zum Beispiel noch nie den „Tristan“ dirigiert. Wenn da ein schönes Angebot käme, mit Zeit zum Proben und mit Seriosität… vielleicht konzertant… Ich habe in Dallas gerade einen konzertanten „Ring“ gemacht. Die Musiker haben gemeckert am Anfang: das ist zu lang, das ist zu schwer. Dann haben sie mir gedankt, denn die Aussage der Musik, der spirituelle Wert – egal, wie man zu Wagner steht –, das ist großartig für einen Musiker. Da vierzehn Stunden lang durchzugehen, ist eine Erfahrung, die ein Leben verändern kann, die auch mein Leben verändert hat. Ich bin der Semperoper und der Staatskapelle dankbar, dass ich in Dresden meinen ersten „Ring“-Zyklus dirigieren durfte. Ich wünsche mir, dass die Musiker meiner Orchesters ähnliche Erfahrungen sammeln dürfen.

Eröffnungskonzert der Dresdner Musikfestspiele 2025
18. Mai 2025

Joseph Haydn Konzert für Violoncello und Orchester C-Dur Hob. VIIb:1
Gustav Mahler Sinfonie Nr. 4 G-Dur

YING FANG SOPRAN
JAN VOGLER VIOLONCELLO
NHK SYMPHONY ORCHESTRA, TOKYO
FABIO LUISI 
DIRIGENT

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