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Vierzig aus vierhundertfünfundsiebzig

Die Staatskapelle Dresden beim Sonderkonzert zum 150. Geburtstag Robert Schumanns im Rahmen der 2. Arbeiterfestspiele des FDGB in Zwickau am 8.6.1960 (Quelle: Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst – Zentralbild (Bild 183); Bundesarchiv, Wikimedia Commons)

An diesem Sonntag diskutiert der Freiburger Historiker Friedemann Pestel mit der Historikerin Katja Hoyer, dem ehemaligen Leiter der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung Frank Richter und dem Solocellisten der Staatskapelle Friedwart Dittmann über die Geschichte der Kapelle in der DDR. Unser Autor hat aus diesem Anlass Pestels Beitrag zum Thema in der jüngsten Chronik der Staatskapelle (»Goldglanz und Schattenwürfe – Die Sächsische Staatskapelle Dresden in den Jahren 1923 bis 2023«, hrsg. von Christoph Dennerlein und Michael Märker, 256 S., Kamprad, 39,80€), gelesen.

“Die Musiker der Staatskapelle sind hoffärtig und aufsässig, mißgünstig vor allem jeder gegen jeden. Dort müßte eine richtige Dirigentenautorität mal richtig hineindreschen,” notierte sich 1985, kurz vor Weihnachten, der frisch gekürte Intendant Gerd Schönfelder. Die wiederaufgebaute Semperoper war gerade erst bezogen, Blomstedt verließ nach 10 Jahren am Pult die Kapelle und der neue Opernchef, den die Stasi als IM “Hans Mai” führte, intrigierte gegen den Niederländer Hans Vonk, der sein Amt als Chefdirigent noch nicht einmal angetreten hatte.

Nicht nur diese Konstellation zeichnet der Freiburger Historiker Friedemann Pestel in seinem Beitrag in der Festschrift zum 475. Kapellenjubiläum nach. Ausgewogen und auch nüchtern widmet er sich den vierzig Jahren des Dresdner Klangkörpers zwischen Kriegsende und Wende. Es gelingt ihm, diese 8,6 Prozent der Kapellgeschichte auf sechzig Seiten aus den Quellen heraus zu beschreiben. In der Gesamtschau wird klar, dass die musikalischen Leitungspositionen an der Elbe nicht erst seit den 1990ern immer wieder Kopfzerbrechen bereiteten. Die Ausnahme ist hier die zehnjährige Amtszeit Herbert Blomstedts von 1975 bis 1985. Zwischen 1945 und 1968 blieb keiner der immerhin sieben Amtsinhaber länger als fünf Jahre.

Außerdem offenbaren die Engagements laut Pestel allesamt politisch-musikalische Kompromisse aus Sicht der verschiedenen kutlurpolitischen Akteure. Keilberth, Kempe und Konwitschny waren NSDAP-Mitglieder. Der Jugoslawe Lovro von Matačić entschwand nach nur zwei Jahren gen Frankfurt am Main. Der Österreicher Otmar Suitner, zuvor nur Kapellmeister in Krefeld und Ludwigshafen, spendete das Preisgeld des ihm angedienten Nationalpreises1963 flugs an die katholische Kirche. Auch er blieb nicht lang. Kurt Sanderling mussten sich die Dresdner mit dem Berliner Sinfonie-Orchester teilen, wo er sich wohl besser aufgehoben fühlte. Der Tscheche Martin Turnovský, zuvor beim Rundfunkorchester in Pilsen, trat nach nur einem Jahr aus Protest wegen der Niederschlagung des Prager Frühlings zurück. Es folgte eine lange cheflose Zeit.

Pestel analysiert, wie gerade diese häufig wechselnden Chefdirigenten und das damit verbundene Machtvakuum dazu beitrugen, die Kapelle zum Schallplattenorchester der DDR zu machen. Ohne Platzhirsch konnte ETERNA internationale Dirigierstars, bezahlt von Deutsche Grammophon, EMI oder Philips, für Aufnahmen nach Dresden holen. Die Rechte teilte man sich sozialistisch, brüderlich, oder doch kapitalistisch? ETERNA vermarktete die Einspielungen im Ostblock, den westlichen Kooperationspartnern blieb der einträglichere Rest der Welt. Auch die seit den späten 60er Jahren sich stetig steigernde Konzerttourneen erklärt Pestel aus einer ökonomischen Logik heraus. Zum Teil verbrachten die Kapellmitglieder fünfzig Tage pro Jahr auf Tour und spielten um Devisen.

So spielte die Kapelle auch am 9. November 1989, als in Berlin die Mauer fiel, fern der Elbe: ein Konzert in Augsburg.

Das 475. Kapelljubiläum ist für die Sächsische Staatskapelle Dresden Anlass, sich auch mit der jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dazu gehören insbesondere die vier Jahrzehnte im sozialistischen System der DDR. Zwischen politischer Vereinnahmung und staatlicher Kontrolle eröffneten sich in dieser Zeit zugleich unvermutete künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten. In der Semperoper Dresden widmet sich am Sonntag um 11 Uhr in der Semperoper ein Podiumsgespräch diesem widersprüchlichen Themenkomplex. Friedemann Pestel, der die DDR-Geschichte der Kapelle im Jubiläumsband »Goldglanz und Schattenwürfe« zum ersten Mal erforscht hat, diskutiert mit der Historikerin Katja Hoyer, dem ehemaligen Leiter der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, MdL Frank Richter und Friedwart Dittmann, Solocellist der Staatskapelle Dresden.

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