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Verachtet mir den Meister nicht

Foto: Matthias Creutziger

Für einen kurzen Moment ist es still nach dem letzten Akkord des überlangen, dritten Aktes der »Meistersinger« an diesem Maiabend. Bis auch der letzte Nachhall in den Logen der Semperoper verklingt, scheint niemand zu atmen. Das sind sie, die wenigen Sekunden, die sich eine ganze Ewigkeit ziehen können.

„War’s das?“ Der unausgesprochene Gedanke schwillt in dieser Stille zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll in meinem Kopf. Das war’s. Zum letzten Mal in dieser Saison hat Christian Thielemann bei einer Opernaufführung am Pult im Graben der Semperoper gestanden. Natürlich wird er wiederkommen. Für die kommende Spielzeit ist bereits ein fulminantes Programm mit ihm angekündigt: eine »Frau ohne Schatten«, eine »Tristan«-Reihe und noch einige Konzerte stehen an. Doch irgendwie fühlt es sich anders an – nach Scheidung, nach Trennung oder vielleicht eher nach offener Beziehung?

Das Dresdner Publikum scheint diese Trennung nicht besonders gut zu verkraften. Es ist an diesem Abend zu Hause geblieben. Vielleicht war das Maiwetter zu schön, um sich über sechs Stunden mit ein paar Wagner-Verrückten freiwillig in der Semperoper einsperren zu lassen. Vielleicht waren aber auch die Tickets dieses Mal absurd teuer. Über 300 Euro kostete die beste Platzkategorie – ein Preis, wie ihn nicht einmal die MET aufruft.

Dabei waren bei Thielemanns Amtsantritt im Jahr 2012 die Karten, so schien es, gar nicht erst verfügbar. Bei dem offiziellen Empfang wurde er bejubelt wie ein Rockstar. Die Gläserne Manufaktur überfüllt mit Gratulanten, es muss im Herbst 2012 gewesen sein. Der neue Chefdirigent schritt damals sichtlich vergnügt zu den Fanfaren aus der »Rienzi«-Ouvertüre durch die Hallen. „Bester Laune“ sei er, diktierte er in diesen Wochen den Journalisten in die Blöcke.

So blieb es aber nicht. Eine Reihe von internen und externen Machtkämpfen, darunter den rund um die Ernennung und Entlassung von Serge Dorny, begleiteten Thielemann über seine Zeit am Dresdner Haus. Es mag ein Zufall sein, doch seit seiner Ernennung zum Chefdirigenten gab es an seiner Seite entweder gar keinen Opernintendanten oder welche, die von der Öffentlichkeit erst wahrgenommen wurden, als es zum öffentlichen Showdown der Alpha-Tiere kam. Von Anfang an hatte Peter Theiler neben Thielemann als Frühstücksdirektor gegolten, eben „eher ein schwacher Mann“ (Bernd Klempnow: „Ein Konsul für die Semperoper“, Sächsische Zeitung v. 3.7.2015, S. 15).

Man wünscht sich, diese Jahre wären so elegant kammermusikalisch verlaufen, wie Thielemann an dem besagten Maiabend den ersten Akt der Meistersinger dirigierte: durchsichtig, flimmernd, stolz, wie ein Kammerspiel. Unvergesslich bleibt das. Es gab viele dieser Abende, die Thielemann mit der Staatskapelle uns, dem Publikum, schenkte. Unzählige Wagner-Vorstellungen, Strauss-Abende – der Chefdirigent extrahierte aus diesen Stücken die unsichtbaren Krümelchen einer Droge, die das Publikum in Ekstase versetzten, intensiver als jede durchtanzte Nacht in einem Berliner Technoclub. Ich erinnere mich an die Premiere der »Ariadne auf Naxos« mit Thielemann am Pult. Weder ich noch meine Begleitung hatten in der Nacht zuvor auch nur ein Auge zugemacht. Übernächtigt schleppten wir uns in den zweiten Rang und sanken in die weichen Sessel. Aber als sich der Saal verdunkelte, waren wir hellwach, berauscht von der ersten Sekunde an.

Solche Premieren verzeihen auch Thielemanns Experimente im Verismo-Fach. Weder der »Manon Lescaut« noch dem Regisseur Stefan Herheim schien Thielemanns Flirt gut getan zu haben. Der Maestro dirigierte das Stück nicht mehr, und Herheim inszenierte seitdem nie wieder an der Semperoper.

Nie vergesse ich die Gänsehaut und Tränen in meinen Augen bei den letzten Tönen im 2. Akt des »Tannhäuser« im März 2019. „Nach Rom“, sang der Chor und ich fühlte den Schmerz des zwischen Vernunft und Hedonismus zerrissenen Protagonisten. Oder mein erster »Tristan«, mit einer Inszenierung, in der auf der Bühne überhaupt nichts passiert. Zum Glück! Denn jeder Ton des Orchesters erzählte an diesem Abend um ein Vielfaches mehr, als ein Regisseur auf die Bühne zu bringen vermag.

Wenn Musik nur aus Luft und Wellen besteht, hat Christian Thielemann diesen Wellen eine Form gegeben, die sich in die Seele schneiden – und die Besucher dazu zwingen, für den Rest ihres Lebens glühende Verehrer von Wagner und Strauss-Opern und vor allem von Thielemann selbst zu werden. An den vielen Abenden mit Thielemann habe ich viel über Musik und ihre Sogwirkung gelernt. Umso mehr wünscht man sich zu diesem »Meistersinger«-Abschluss mehr solcher Abende. Solcher Klangerfahrungen, die voller Versöhnung klingen. Einer Versöhnung mit dem Haus, mit dem Orchester… aber auch einer Versöhnung mit diesem absurd langen und schwierigen dritten Akt.

Thielemanns bevorstehender Abschied von Dresden ist ein leiser. Nicht zuletzt ist der ehemalige Hauptsponsor der Staatskapelle seit Jahren nicht mehr mit Glanz und Klang, sondern mit Schadensbegrenzung beschäftigt. Vielleicht rührten auch daher die astronomisch hohen Kartenpreise? Oder etwa doch, wie im Kino, wegen Überlänge?

„Angekommen“ stand 2012 auf Plakaten mit Thielemanns Konterfei in der Dresdener Innenstadt – und doch ist der Maestro hier in den elf zurückliegenden Jahren nie richtig angekommen. Der Dirigent war stets Gast in einem Hotel, welches nun auch geschlossen ist. Vielleicht ist dieser versöhnliche dritte Akt der Meistersinger auch eine Aussöhnung mit der bevorstehenden Trennung.

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