„Da drüben sitzt Tobias Niederschlag, der hat sich dieses ganze Schostakowitsch-Festival ausgedacht“, erklärte mein Sitznachbar seiner Tochter beim großen Abschlusskonzert im Gewandhaus. Und obwohl der Leiter des Konzertbüros in keinem der Programmhefte namentlich auftaucht, stimmt das schon ungefähr: Tobias Niederschlag rief 2010 – damals noch als Konzertdramaturg der Sächsischen Staatskapelle – die Internationalen Schostakowitsch-Tage in Gohrisch ins Leben, zeichnete 2019 den Dirigenten Andris Nelsons mit dem Schostakowitsch-Preis aus. Nelsons rückte damals in eine illustre Reihe mit anderen Preisträgern: dem Schostakowitsch-Biografen Krzysztof Meyer etwa oder der Leiterin des Moskauer Schostakowitsch-Archivs, Dr. Olga Digonskaya. Fünfzig Jahre nach Schostakowitschs Tod sind sich nun all die Jünger und Apologeten, die leidenschaftlichen Fans und Musikbegeisterte aus aller Welt beim „Schostakowitsch-Festival Leipzig“ wiederbegegnet. Zweieinhalb Wochen lang erklangen im Gewandhaus sämtliche Streichquartette, alle Sinfonien und die wichtigsten kammermusikalischen Werke; im Opernhaus gegenüber wurde die »Lady Macbeth von Mzensk« wiederaufgenommen, erstmals mit Nelsons am Pult. Bevor Ende Juni in Gohrisch zum sechzehnten Mal die „Schostakowitsch-Tage“ veranstaltet werden, hat Martin Morgenstern Tobias Niederschlag um einen Rückblick gebeten.
Als der Gewandhauskapellmeister Kurt Masur vor knapp fünfzig Jahren zum ersten Mal alle Schostakowitsch-Sinfonien aufs Programm setzte, blieben viele Plätze im Saal leer. Was für ein Kontrast zu den vielen ausverkauften Konzerten der letzten Tage. Wie erklären Sie sich dieses Interesse?
Da hat sich natürlich in den letzten Jahrzehnten viel verändert. Schostakowitsch gilt inzwischen als Klassiker und ist einer der wenigen Komponisten des 20. Jahrhunderts, die fest im Repertoire verankert sind. In den letzten Wochen hatten wir nicht nur viele Leipzigerinnen und Leipziger im Publikum, sondern ein internationales Festivalpublikum, das Schostakowitsch gefeiert hat. Dabei habe ich – in den Pausen, aber auch in vielen Gesprächen nach den Konzerten – ein überwältigendes Interesse am Diskurs über diesen Komponisten festgestellt.
Die deutschsprachigen Konzerteinführungen im Mendelssohn-Saal, der 500 Plätze hat, waren oft völlig überlaufen; auch die englischsprachigen waren gut besucht, fanden fast kein Ende. Das Publikum hatte tiefschürfende Fragen für die beiden Dramaturgen. Offenbar besteht immer noch Redebedarf…
Ja, noch immer gibt es viele Fragen um biographische Hintergründe und konkrete Werkaussagen, die sich nicht eindeutig beantworten lassen. Schostakowitsch hat sich bei Nachfragen dieser Art selbst sehr zurückgehalten und es sind nur wenige authentische Zeugnisse von ihm überliefert. Deshalb war es uns bei der Konzeption des Festivals wichtig, ihn in seiner ganzen stilistischen Vielfalt zu zeigen, mit allen Licht- und Schattenseiten. Wir wollten ein möglichst differenziertes Bild von ihm zeichnen, das Propagandakompositionen ebenso einschließt wie die großen Bekenntniswerke mit ihren versteckten Botschaften. Ich bin sehr glücklich, dass dieser Ansatz vom Publikum mit so großem Interesse angenommen wurde – ganz abgesehen von den interpretatorischen Sternstunden, die wir erleben durften. Die Menschen haben sich inhaltlich mit der Musik und ihrem Kontext auseinandergesetzt. Das ist etwas, das unserem Konzertbetrieb sehr guttut und leider viel zu selten passiert.
Diese Auseinandersetzung wird teilweise richtig heißblütig geführt, wie ich auch beim musikwissenschaftlichen Symposium der Deutschen Schostakowitsch Gesellschaft während des Festivals beobachten konnte. Die einen sehen in Schostakowitsch den angepassten Systemkomponisten, der wider bessere Einsicht künstlerische Qualität preisgab. Die anderen wittern hinter jedem scheinbar unterkomplexen Werk eine verschlüsselte Botschaft an gleichgesinnte Hörer.
Es zeigt sich jedenfalls eines ganz klar: Bei der Auseinandersetzung mit Schostakowitsch kann man zu unterschiedlichen Schlüssen kommen, die häufig gleichermaßen ihre Berechtigung haben. Vielleicht macht genau das den Reiz aus, sich mit Schostakowitsch zu beschäftigen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass man diesem Komponisten mit einem differenzierten Blick, der mitunter manchen auch fehlt, wahrscheinlich am meisten gerecht wird. Bei der gestrigen Schostakowitsch-Lounge nach dem Konzert wurde mir die Frage gestellt: Braucht dieser etablierte Komponist uns überhaupt? Nun ist es ja so, dass Schostakowitsch im heutigen Russland mit einer klar ideologisch gefärbten Sichtweise wieder zunehmend vereinnahmt wird. Um der russischen Propaganda diese Deutungshoheit nicht allein zu überlassen, ist es ganz wichtig, dem einen Gegenentwurf entgegenzustellen – so, wie es dieses Festival getan hat. Vielleicht braucht Schostakowitsch im Moment solche Aufführungen wie die in Leipzig, wo er in seiner Vielschichtigkeit beleuchtet wird. Angesichts der vielen schrecklichen Dinge, die momentan in der Welt passieren – angesichts der Kriege, der gesellschaftlichen Umbrüche und der wieder allgegenwärtigen Propaganda – glaube ich aber zudem, dass besonders wir Schostakowitsch heute mehr brauchen denn je. Er hat in vielen Werken sehr deutlich den Finger in die Wunde gelegt und auf Missstände hingewiesen, die sich derzeit in erschreckender Weise wiederholen. Darauf kann man gar nicht häufig genug hinweisen. Als wir das Festival vor einigen Jahren geplant haben, war diese Entwicklung in ihrer heutigen Ausprägung noch nicht absehbar.
Gewandhausdirektor Andreas Schulz verriet kürzlich, dass das nächste Festival in zwei Jahren Ludwig van Beethoven gewidmet sein wird. Ob sich dieser jüngste Festivalerfolg mit einem Komponisten, der einhundertfünfzig Jahre vor Schostakowitsch starb, wiederholen lässt? Zu Beethoven fallen mir kaum kontroverse Fragen ein, kaum „umstrittene“ Werke.
Auch bei Beethoven gibt es sehr unterschiedliche Werke. Und deren Rezeptionsgeschichte wirft mitunter auch große Fragen auf. Aber natürlich wird dieses Festival ganz anders aussehen als das jetzige – auch wenn man an politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen bei Beethoven ebenfalls gar nicht vorbeikommt. Anlass ist wieder ein großes Gedenkjahr, und Beethovens Musik ist seit dem weltweit ersten Sinfonien-Zyklus, den das Gewandhausorchester noch zu Lebzeiten des Komponisten aufführte, in Leipzig fest verankert. 2027 ist außerdem das Jahr, in dem Kurt Masur 100 Jahre alt geworden wäre. Daraus ergeben sich spannende Anknüpfungspunkte…
Vielen Dank für das Gespräch.
Internationale Schostakowitsch-Tage Gohrisch
26.-29. Juni 2025
Tickets: Tel. +49 3501 4404 536 (Anrufbeantworter)
E-Mail: tickets@schostakowitsch-tage.de