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Stolpern, taumeln, wieder aufstehen

Dresdner Musikfestspiele, 40. Jubiläum. Ein Grund zum Feiern! Das Programm läuft unter dem Motto LICHT. Vor 30 Jahren hatten die Musikfestspiele noch kein Motto, aber zum damaligen Jubiläum, dem zehnjährigen, gab es eines der bislang wichtigsten Gastspiele der Tanzgeschichte in Dresden. Und diese Geschichte ist nicht arm an großen Ereignissen und Gastspielen.

Fotos: FilipVanRoe

1987 war es. Pina Bausch kam nach Dresden. Sie stand selbst auf der Bühne in ihrem »Café Müller« mit dem Wuppertaler Tanztheater. Im zweiten Teil dann ihre ebenso berühmt gewordene Sicht auf Strawinskys »Le Sacre du Printemps«, diesem „Frühlingsopfer“ auf der mit Torf belegten Bühne, dessen Duft sich im Schauspielhaus ausbreitete: Tanz, den man riechen konnte.

Selbstredend war das Interesse in Dresden groß. Zwei Vorstellungen waren angesetzt und natürlich im Nu ausverkauft. Wie es mir damals gelang, für die erste Aufführung Karten zu ergattern? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls war das Schauspielhaus an diesem Abend von Menschen, die dabei sein wollten, regelrecht umlagert. Aber die Vorstellung war längst ausverkauft! Und dann der Sturm – nicht auf das Winterpalais – nein, auf das Theater! Das Schauspielhaus wurde gestürmt, das Einlasspersonal war machtlos. Als Pina Bausch das mitbekam, ließ sie mitteilen, dass sie erst mit der Aufführung beginnen werde, wenn alle, die dabei sein möchten, auch im Theater sind. Es gab Platz für alle. Meine Eindrücke dieses Abends sind noch immer lebendig. Die Bilder habe ich im Kopf, das »Café Müller« wurde in meiner Erinnerung nie geschlossen.

Natürlich hätte ich mit inzwischen wieder Aufführungen ansehen können, beim Wuppertaler Tanztheater. Aber ich wollte nicht. Und dann kam die Nachricht, das Ballet Vlandeeren bringe das »Café Müller« heraus. Also doch hin. Auf nach Antwerpen! Ich wollte wissen: wie ist es möglich, für eine andere Company, für eine jüngere Generation von Tänzerinnen und Tänzern dieses Stück aufzuführen und dabei nicht in eine tödliche Nachahmungsfalle zu tappen?

So erlebte ich einen bemerkenswerten Abend, der aber auch Fragen offen lässt. »Hope« heißt der dreiteilige Ballettabend, der im Opernhaus von Antwerpen seine Premiere feierte und natürlich schon wegen der ausgewählten Stücke Interesse weckt. Die belgische Kompanie mit ihrem künstlerischen Direktor Sidi Larbi Cherkaoui durfte als erste, fast 40 Jahre nach der Wuppertaler Uraufführung, »Café Müller« von Pina Bausch einstudieren. Darauf folgt hier »Chronicle« von Martha Graham aus dem Jahre 1936 und zum Abschluss eine Uraufführung der belgisch-kolumbianischen Choreografin Annabelle Lopez Ochoda, »Ecdysis« zur Musik von Henryk Górecki aus dessen zweitem Streichquartett in einer Fassung für kleines Orchester.

Unter der Leitung von Daniel Inbal setzen die Musiker des Orchesters der Opera Vlaanderen hier bemerkenswerte Akzente. Dagegen verblasst allerdings der musikalische Eindruck, den zuvor Wallingford Rieggers Musik zu Martha Grahams Kreation vor allem wegen der über weite Strecken schmetternden, blechernen Militanz hinterließ. So bleibt am Ende des mit seinen Stücken jeweils beeindruckenden Abends doch die Frage, ob die Zusammenstellung der Werke dramaturgisch überzeugen kann, vor allem in der Abfolge nach Pina Bauschs Kultstück.

Schon optisch nimmt diese Arbeit eine besondere Stellung ein. Es wird kein Orchester benötigt; die Musik wird zugespielt, das Bühnenbild der originalen Ausstattung von Rolf Borzik reicht bis an die erste Reihe im Parkett. Das Café Müller gab es wirklich und es heißt, Pina Bausch habe schon als kleines Mädchen hier Tanzschritte probiert. In ihrem Stück von 1978 setzt sie diesen Erinnerungen ein Denkmal, wenn auch ein trauriges. Es gibt längst keinen Kaffee mehr oder süße Sachen in diesem verlassenen Café mit seinen umgestürzten Stühlen, mit den beiden Türen links und rechts, noch einen Durchgang auf der rechten Seite oder der Glastür an der hinteren Wand, hinter der sich jene Drehtür für die wie eingeschlossen wirkenden Menschen auf ihren Endlosdrehungen um eine nicht mehr auszumachende Mitte befindet. Jetzt wird dieser Raum zum Alptraumgefängnis für Menschen, die an ihren Erinnerungen wie an nicht lösbaren Rätseln ihrer Existenzen zu zerbrechen drohen. Sie stolpern und stürzen, sie prallen ab voneinander, sie tänzeln und stöckeln. Da kann ein Darsteller noch so eifrig umgestürzte Stühle aus dem Weg räumen, eine Darstellerin weicht jeder noch so kleinen Möglichkeit der Freiheit aus. Da kann ein anderer Darsteller alle Kraft aufwenden und höchsten körperlichen Einsatz, es lässt sich zwischen einer Frau und einem Mann keine Beziehung, geschweige denn Nähe, erzwingen. Sie entgleitet, stürzt zu Boden; später werden sich beide mit regelrechter Lust am Schmerz krachend gegen die Wände schleudern. Und jene einsame Frau, einst Pina Bausch selber, jetzt die wunderbare Joëlle Auspert, die sich an der Wand entlang tastet, stürzt und stolpert und dann, wenn wie von historischen Aufnahmen zugespielt die klagenden und erinnernden Gesänge aus Henry Purcells Opern »The Fairy-Queen« oder »Dido and Aeneas« erklingen, für Momente in diese wunderbare Freiheit der Leichtigkeit des Seins tänzerischer Bewegungen gelangt.

Wie diese Tänzerin, so auch und Nancy Osbaldeston und die Shelby Williams, die Tänzer Gabor Kapin, James Waddell und Laurie McSharry-Gray, sie alle entgehen der Nachahmungsfalle, stellen sich den Vorgaben der Choreografie von Pina Bausch mit jeweils persönlichem, individuellem Anspruch in diesem Kampf mit den Erinnerungen und Konfrontationen mit den Rätseln ihrer Existenzen. So kann man sich der emotionalen Berührung dieser Vergeblichkeiten scheiternder Begegnungen im »Café Müller« auch im Jahr 2017 nicht entziehen.

Anders ist das bei »Chronicle« von Martha Graham. Hier will es bei besten tänzerischen Leistungen nicht gelingen, durch die Staubschicht zu dringen, die sich über diese Kreation gebreitet hat. Im ersten Teil, »Spectre-1914« fasziniert Aki Saito mit jener berühmt gewordenen Choreografie für eine Tänzerin und ein Kleid, dann gemeinsam mit der Solistin Acacia Schachte auch in den Teilen II und III, »Steps in the Street« und »Prelude to Action« mit unterschiedlich konzipierten Gruppen von elf Tänzerinnen, deren vom Ausdruckstanz grundierte, tänzerisch auch sehr anspruchsvolle Bewegungsvarianten voller Kraft sind, und dennoch seltsam fern bleiben.

Dass es Annabelle Lopez Ochoda vermag, den Vorgaben der Musik zu folgen und tänzerische Abläufe, in denen sich neoklassische Ansprüche mit zeitgenössischem Ausdruck mischen, zu kreieren, stellt sie eindrücklich in der abschließenden Choreografie »Ecdysis« (s. Titelfoto) unter Beweis. Dreizehn Tänzerinnen und Tänzer in einer Gruppe, Männer und Frauen gleich gekleidet, zu speziellen Wesen durch comicartige Irokesenfrisuren gestaltet, zunächst in großer Nähe dicht beieinander unterm Licht einer einsamen Glühbirne auf der ansonsten leeren Bühne. Stärker überzeugen ihre vier Duos für Aki Saito und Wim van Lessen, Maria Seletskaja und Teun van Roosmalen, Fiona McGee und Daniel Domenech, Nini de Vet und Claudio Cangialosi, sowie ein Trio für Anasatsia Paschali, Teun von Roosmalen und Viktor Banka. Wenn die Choreografin den rhythmischen Vorgaben der Musik folgt, in den Duetten, im Trio, in den Vermischungen der Gruppen auch, dann erlebt man so etwas wie Tanz pur: der Spitzentanz erscheint als höchst angemessenes Mittel. In verlöschender Melancholie klingt diese Arbeit aus, wenn alle ihre Kleidung weitestgehend ablegen und sich, der Schutzlosigkeit ausgeliefert, unter dem einsamen Licht zusammendrängen.

Am Ende bleibt der Anfang in stärkster Erinnerung. Liegt es an der Reihenfolge oder daran, dass sich schwer andere Stücke finden lassen, die einer solchen Korrespondenz standhalten können? Und da waren wir uns einig, zum Beispiel im Gespräch mit der wunderbaren Tänzerin Malou Airaudo, die wegen der Einstudierung gekommen war und der ebenfalls daran lag, eine „Nachahmung“ zu verhindern. Und dann, natürlich, sie war ja vor dreißig Jahren in Dresden dabei!, tanzte eine der drei Frauenpartien und erinnert sich sofort an diesen denkwürdigen Abend. Also stoßen wir an auf dieses »Café Müller«, in dem es, wie schon gesagt, längst keinen Kaffee mehr gibt, aber immer noch genügend Raum, um zu stolpern über den Rätseln der eigenen Existenz und wieder aufzustehen um erneut zu stolpern und zu taumeln, was dann irgendwann aber auch an dem guten Weißwein liegen kann.

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