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Gipfelstürmer greifen nach göttlicher Gnade

Mt. Everest, 2012 (Foto: Kimberly Casey. Quelle: Wikimedia Commons)

Da liegt er vor uns, der heilige Berg. Mount Everest. Der höchste Berg der Erde. Tibetisch wird er ཇོ་མོ་གླང་མ („Dscho mo lang ma“) genannt, „Mutter des Universums“. Höher geht es nicht für uns Menschen. Die Besteigung ist gefährlich. Es drohen plötzliche Wetterumschwünge, Blitzschlag, Erfrierungen, Höhenkrankheit, Abstürze, Geistesverwirrtheit (Sauerstoffmangel!), Lawinen. Derjenige, der den Gipfelsturm wagt, muss vorbei an den sterblichen Überresten derer, die gescheitert sind, die es nicht wieder heil hinunter in die Menschenwelt geschafft haben. Die, die den Aufstieg meisterten und auch glücklich wieder zurück sind von diesem Abenteuer, beschreiben die Ersteigung als lebensverändernd. Man spüre „den Wert des Lebens“ in solchen gefährlichen Situationen am Berg, beschrieb das Hans Kammerlander einmal.

Womit wir beim »Ring« wären. Auch er braucht geduldige, langwierige Vorbereitung. Gewöhnung an die Wagnersche Höhenluft. Wer die Regenbogen-Brücke zur Götterburg Walhall überschreiten will, muss seine Höhenangst bezwingen. Ob in Bayreuth, Dessau oder Dresden: wer sich einmal dem ganzen »Ring« ausgesetzt hat, stundenlang, tagelang, wird nie wieder derselbe sein.

Nun gibt es da auch diese kommerziellen »Scenic flights«. „Erleben Sie Luxus über den Wolken mit unserem Premium-Helikopter-Tourpaket zum Mount Everest“, tönt die Webseite; „atemberaubende Ausblicke, erstklassigen Service und unvergessliche Momente auf dem Dach der Welt“ versprechen die Anbieter. Bergsteiger können da nur leise mit dem Kopf schütteln. Was ist der unvergessliche Moment wert, wenn er nicht hart erarbeitet wurde?

Sicher, man fliegt an all den legendären Wegmarken des Aufstiegs vorbei. Tief unten im Tal schlängelt sich silbern der Rhein. Hinter der Nordflanke dräuen die Klüfte von Nibelheim. Hoch oben rückt Walhall ins Bild, schwebend über den Wolken, in einem Licht, das nicht von dieser Welt ist. Dort ruhen die Götter, geblendet von ihrem eigenen Glanz, während im Sonnenuntergang die glutrote Linie der Götterdämmerung aufflammt. Das alles erlebt der Fluggast aus der Vogelperspektive, das ganze gewaltige Ringmassiv, musikgeologisch geschichtet, von den Tälern der Intrigen bis zu den Gipfeln der Erlösung. Aber der grätzige Drachenatem erreicht ihn nicht, die bittere Kälte nicht und nicht das Schnauben und wilde Augenrollen der schwitzigen Pferde aus dem Walkürenfelsenstall. Kaum eingestiegen, kaum aufgestiegen, schwupp!, ist der Rundflug schon wieder vorbei. Leicht betäubt wankt man aus dem Konzertzimmer – war’s das jetzt? Erst mal einen doppelten Espresso.

»Ich habe Nein gesagt! Ich habe einen Versuch unternommen – und fand es grauenhaft. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen jemand anderen fragen.« (Lorin Maazel auf die Bitte hin, den »Ring« zur sinfonischen Suite umzuschmieden)

Zu den Anbietern dieser Rundflüge nochmal. Hans von Bülow, Engelbert Humperdinck und Franz Liszt hießen die Pioniere der Klavierbearbeitungen, »Der Ritt der Walküren« (neben den Nachbargipfeln »Isolden’s Liebes-Tod« und »Charfreitags-Zauber«). Hermann Zumpe fertigte erste Orchesterbearbeitungen an („WAGNER, R.: Waldweben aus dem Musik-Drama Siegfried. Für Orchester zum Conzertvortag eingerichtet [von H. Zumpe]. Partitur. Mainz, Schott (PlattenNr. 22401) [1878].) Leopold Stokowski schuf sogenannte „Symphonische Synthesen“ der Werke. Und auf gutes Zureden von Wieland Wagner hin setzte sich Lorin Maazel am Ende doch hin und baute für die Berliner Philharmoniker vor knapp vierzig Jahren einen »Ring ohne Worte« zusammen.

Vorgestern feierte dieser siebzigminütige »Ring ohne Worte« in Berlin seine Wiederauferstehung unter der Reiseleitung von Teodor Currentzis. „Ein heikles Unterfangen“, bibberte der Kritiker des „Tagesspiegels“, Ulrich Amling. „Ohne menschliche Stimmen fehlt dieser tobenden Wagner-Welt jegliches Maß. Und plötzlich fühlt man sich dem abdankenden Gottvater Wotan nahe, der nur noch eines herabsehnt: das Ende…“ Und Felix Stephan von der „Berliner Morgenpost“ urteilte: „Currentzis’ Wagner hat einen eher geringen Wohlfühl-Faktor. Ihm geht es vielmehr darum, in die Extreme zu gehen und zu provozieren. Mal mit irrwitzigen Lautstärken wie in der „Schmiedemusik“, wo er die Ambosse höllisch kreischen lässt. Mal mit rockigen Beats und messerscharfen Rhythmen wie im „Walkürenritt“ (…) Currentzis scheint hier ein Wagner-Crossover im Sinn zu haben: einen martialischen Mix aus Spätromantik, Heavy Metal und Schostakowitsch.

Dirigent und Arrangeur Daniele Gatti. Foto vom 3. Symphoniekonzert der Saison: Oliver Killig

Gediegener, geschmeidiger, aber ja, auch ein wenig sauerstoffärmer scheint mir Daniele Gatti in seiner eigenen sinfonischen Suite aus der »Götterdämmerung« zu Werke zu gehen. Aneinandergenäht sind hier „Morgendämmerung“, „Siegfrieds Rheinfahrt“, „Siegfrieds Tod“ und der Trauermarsch. Die Kombination mit Richard Strauss‘ »Heldenleben« klingt verführerisch. Der Dirigent hat dies vor drei Jahren in Genf schon einmal durchgespielt (bekannte Gesichter im Orchester!) und wiederholte die Konzertfolge letzte Woche in Dresden im 3. Sinfoniekonzert mit Yuki Manuela Janke am ersten Geigenpult. Gattis Lesart erinnerte mich indes an die Versprechungen von Blinkist, einer App für vielbeschäftigte Leute, die keine Zeit haben, aber doch belesen erscheinen wollen. Aber: Wollen wir Staatskapell-Hörer denn nicht gern selbst leiden, den Gipfel ohne Sauerstoff angehen? Sind wir doch im Klartraum schon hundertmal die Südroute gegangen, den steilen „Barenboim-Eisbruch“ auf 5400 Metern, haben den Solti-Talkessel durchquert und, von den Sherpas unterstützt, die vereiste Thielemann-Flanke gemeistert. Über den Janowski-Sattel geht es dann den Grat steil hinauf zum Solti-Südgipfel. Von dort aus sind es noch hundert Höhenmeter über Schnee, Eis und Geröll bis zum eigentlichen Gipfel.

Als Gruß aus dem Hellerauer in das Bayreuther Festspielhaus, das nächstes Jahr sein 150jähriges Jubiläum feiert, erklingt der Maazel’sche »Ring ohne Worte« übrigens im April 2026 auf Dresdens grünem Hügel (Dirigent: Dennis Russell Davies). Der Regisseur Achim Freyer wird dazu in Verbeugung vor dem legendären Licht-Bühnenbildner Adolphe Appia eine immersive Bühnen-Licht-Arbeit schaffen – wenn die sächsische Landeshauptstadt nicht vorher den Geldhahn zudreht.

Bei der aktuellen China-Tournee der Staatskapelle steht heute (in Nanjing) und am Sonntag (in Guangzhou) das »Heldenleben« auf den Notenständern. Nächstes Jahr erklingen in Madrid das Vorspiel zum dritten Akt und »Karfreitagszauber« aus »Parsifal« und Vorspiel und »Liebestod« aus »Tristan und Isolde« (20. Mai 2026). In Wien, Essen, Frankfurt und Paris ertönt dazu das Vorspiel zu den »Meistersingern von Nürnberg«.

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