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Micha, mein Micha!

Lieber Leser, erinnerst du dich noch an die feierliche Weihe der wiedererrichteten Frauenkirche Dresden? Sechzehn Jahre ist das her. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler hielt die Festansprache und betonte: angesichts dieses Kirchenneubaus werde deutlich, Deutschland brauche mehr als nur Straßen, Gewerbegebiete und Forschungsinstitute. Seine Amtsvorgänger Roman Herzog, Johannes Rau und Richard von Weizsäcker waren sämtlich zugegen und nickten beifällig.

Im Kirchenrund saß übrigens auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Und eine CDU-Politikerin, die als Kanzlerkandidatin gerade das schlechteste CDU-Wahlergebnis seit 1949 eingefahren hatte: Angela Merkel. Einige Tage später würde sie zur ersten Bundeskanzlerin der Republik, mit 51 Jahren zur jüngsten Inhaberin dieses Amtes gewählt werden.

2005 war das. Und nun schreiben wir das Jahr 2021. Angela Merkel, inzwischen 67 Jahre alt, ist gestern Abend mit einem Großen Zapfenstreich aus ihrem Amt verabschiedet worden. Ihre musikalischen Wünsche ließen noch einmal aufhorchen: neben dem Kirchenchoral „Großer Gott, wir loben dich“ bat sie um Abspielen des Nina-Hagen-Hits „Du hast den Farbfilm vergessen“.

Dieser Wunsch kann historisch interessierte Musikwissenschaftler nicht kaltlassen. Weil der Textdichter Kurt Demmler, mit zehntausend hinterlassenen Texten einer der produktivsten deutschsprachigen Dichter überhaupt, vor zwölf Jahren nach erneuter Anklage wegen Kindesmissbrauchs in Untersuchungshaft Selbstmord beging, stellt sich mit dem Kanzlerinnenwunsch erneut eine Frage, um die wir Dresdner spätestens seit 1842 kreiseln: wie kann es sein, dass menschliche Ziemlich-Scheusale wie Richard Wagner so göttliche Kunst hervorbringen? Und dass wir uns dieser Kunst wider besseres Wissen um ihre Schöpfer oft nicht entziehen können?

C-Dur sei doch nur C-Dur, schulterzuckt Christian Thielemann ja bekanntlich, wann immer die Rede auf dieses Thema kommt. Aber das stimmt nicht, wenn man nur ein kleines bisschen weiter denkt. Der 13. Februar etwa ist eben nicht nur ein Datum, die Dinge haben ihre Geschichte, und wer das unbewusst verdrängt oder bewusst ausblendet, schreckt schlicht vor der eigentlichen, interessanten Fragestellung siehe oben zurück. Dass die Bayreuth-Jüngerin Angela Merkel diesem Zwiespalt nicht einfach ausgewichen ist – Unwissenheit wird ihr in Sachen Wagner wie Demmler wohl keiner unterstellen wollen –, ist ihr hoch anzurechnen. Interessant wird es doch eigentlich erst, wenn die Dinge komplex werden und man Komfortzonen aufgeben muss, um zu Erkenntnissen zu gelangen.

Postskriptum: Feine Ironie hätte Frau Merkel vielleicht noch mit der Auswahl eines unsterblichen Werkes des Komponisten Kurt Schwaen, ehemaliger zweiter Sekretär des Komponistenverbands der DDR, Mitglied der Deutschen Akademie der Künste Berlin und Präsident des Nationalkomitees Volksmusik, beweisen können. In seiner Zeit als Dozent für Tonsatz und Klavier an der Humboldt-Universität schrieb Kurt Schwaen 1951, drei Jahre vor Merkels Geburt, den folgenden Text und vertonte ihn als Opus 49,1:

Wenn Mutti früh zur Arbeit geht,
dann bleibe ich zuhaus.
Ich binde eine Schürze um
und feg die Stube aus.

Das Essen kochen kann ich nicht,
dafür bin ich zu klein.
Doch Staub hab ich schon oft gewischt,
wie wird sich Mutti freu’n!

Ich habe auch ein Puppenkind,
das ist so lieb und fein.
Für dieses kann ich ganz allein
die richt’ge Mutti sein.

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