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Fortunato war deprimiert

Alle Fotos: Michael Ernst

Februar 2017: In Venedig regnet es schon seit Tagen in Strömen. Ich stehe mit Fortunato Ortombina, dem Intendanten der Oper Venedig, dem Teatro La Fenice, wie häufig rauchend während der Pause unter dem Portikus des Theaters zusammen mit einem ebenfalls rauchenden Ehepaar. „Darf ich Dir vorstellen: Peter Theiler, euer neuer Intendant der Semperoper!“ Wir hören einen Tannhäuser, dirigiert von Omer Meir Wellber, der ein paar Tage zuvor zusammen mit Jan Vogler als Solist und dem Orchester des La Fenice ein Sinfoniekonzert dirigiert hat.

Die Verbindung Dresden-Venedig zeigte sich damals in bester musikalischer Form. Die angedachte künstlerische Zusammenarbeit der beiden Häuser kam indes nicht zustande. Ich zog Mitte 2018 nach Venedig.

»Venedig und die Oper: Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner« hat der niederländische Dramaturg, Autor und Librettist Willem Bruls (geboren 1963) 2018 bereits auf Niederländisch vorgelegt. Im März erschien das Buch in deutscher Übersetzung von Bärbel Jänicke. 

Auf rund 250 Seiten in 19 Kapiteln bettet der Autor die Musikgeschichte Venedigs von Monteverdi bis Luigi Nono in die historischen Zusammenhänge von rivalisierenden Familien, circa 20 Opernhäusern, der Erfolge und Misserfolge, der Intrigen und des schönen freien und freizügigen Lebens in Venedig ein. Schwerpunkte setzt er bei Monteverdi und Vivaldi. Die akribische Werkeinführung zu Vivaldis »Orlando Furioso« und der Textquelle (Ariost) ist fast ein abgeschlossenes Werk; spannend zu lesen, wie uns der Autor an der Rezeptionsgeschichte teilhaben lässt. Die Kontroverse zwischen Vivaldi und seinem Zeitgenossen Benedetto Marcello, nach dem immerhin das Musikkonservatorium in Venedig im prachtvollen Palazzo Pisani benannt ist, kommt etwas zu kurz; unabhängig davon, dass Bruls das abgebildete Deckblatt der Schrift von Benedetto Marcello, »Il teatro alla moda«, das den Autor nennt, zwei Seiten später als „anonymes Pamphlet“ bezeichnet.

Die Entstehung von Mozarts »Don Giovanni« bzw. dessen Libretto von Lorenzo da Ponte führt er überzeugend auf die Intrigengeschichte zwischen Casanova und der mächtigen und in der Musikwelt sehr engagierten Familie Grimani zurück. Casanova hatte die Familie öffentlich beschimpft, was dazu führte, dass Carlo Grimani den Librettisten Giovanni Bertrati beauftragte, eine Adaption des spanischen Werkes »Don Juan oder der Verführer von Sevilla und der steinerne Gast« zu schreiben, um daran das lasterhafte Leben Casanovas öffentlich zur Schau zu stellen. Von dem Komponisten de Molina vertont, sollte es am Theater der Familie Grimani, dem Teatro San Benedetto aufgeführt werden. Dazu kam es nicht – erst 1787 wurde die Oper unter dem Titel »Don Giovanni Tenorio« mit der Musik von Giuseppe Gazzaniga im Teatro San Moisé aufgeführt. Die Handlung entspricht fast vollständig dem Libretto von da Ponte. Da Ponte hielt den Textautor Bertrati zwar für einen „aufgeblasenen Windbeutel“, was ihn jedoch nicht hinderte, sein Libretto in großen Teilen zu adaptieren. 

Die Geschichte hat noch eine schöne Wendung: 1787 trafen sich da Ponte, Mozart und Casanova bei den Proben zu »Don Giovanni« in Prag. Letzterer lebte arm und alt auf einem böhmischen Landsitz…

Gerade die gesellschaftliche Entwicklung Venedigs des späten 18. Jahrhunderts kurz vor und nach der erzwungenen Übergabe der Stadt an Napoleon im Mai 1797 beschreibt Bruls eindrücklich. 

1813 war ein bedeutendes Jahr. Napoleon wurde in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, in das Schlachtgetümmel hinein wurde am 22. Mai Wagner in Leipzig geboren und etwas später im Jahr Verdi. Und der junge Rossini begann seine Karriere in Venedig mit den Uraufführungen von gleich drei Opern: »Il signor Bruschino« im Teatro San Moisé, »Tancredi« im Teatro La Fenice und »L‘Italiana in Algeri« im Teatro San Benedetto. Es sind diese Verbindungen, die die Lektüre des Buches anregend machen. Das gilt auch für die Uraufführung von Verdis »La Traviata«, die am 6. März 1853 im La Fenice ein totaler Reinfall wurde. Die österreichische Zensur hatte Verdis Idee, das Stück in die Gegenwart zu versetzen, verboten, so dass er es ins Paris um 1700 verlegen musste. Das war wohl nicht allein der Grund für den Verriss durch das Publikum.

Richard Wagners erster Besuch in Venedig begann am 29. August 1858 und dauerte bis zur Flucht vor der österreichischen Polizei am 24. März 1859. Hier beendete er den zweiten Akt des »Tristan«. Hier nutzt Bruls die Gelegenheit, die Geschichte der Kaffeehäuser in Venedig unter der österreichischen Herrschaft zu erzählen. Wagners Tod in Venedig am 13. Februar 1883 führt zum Thema »Tod in Venedig«, auf den Lido, zu Gustav Mahler, Thomas Manns Novelle und deren berühmter Verfilmung. 

In der Neuzeit liegt der Schwerpunkt auf dem venezianischen Komponisten Luigi Nono, dessen Werk »Intolleranza« 1961 im La Fenice uraufgeführt wurde. In einem Gespräch mit seiner Witwe Nuria Schönberg in der Fondazione Luigi Nono auf der Insel Giudecca wird klar, welch großen Einfluss die Klänge Venedigs auf den Komponisten Nono hatten. 

Die Freude an der durchwegs anregenden Lektüre wird ein wenig getrübt durch einige sachliche Fehler. Wenn Bruls schreibt, es hätte in Venedig keinen Adel gegeben wie im übrigen Italien, ist das so jedenfalls nicht zutreffend. Bereits im siebten Jahrhundert zur Zeit des Exarchats von Ravenna unter dem byzantinischen Kaiser Mauritius bildete sich durch vererblichen Großgrundbesitz die Keimzelle der alten venezianischen Adelsfamilien, aus deren Mitte dann ab 697, zunächst noch ungeordnet, ab 1172 dann im Rahmen einer Verfassung der „dux“ (Doge) gewählt wurde. Das ist für die Musikgeschichte insoweit wichtig, weil die Opernhäuser in Venedig, worauf Bruls ja auch hinweist, bis zum Bau des La Fenice 1792 jeweils von adeligen Familien gebaut und unterhalten wurden. Für den Bau des La Fenice wurde auch wegen des wirtschaftlichen Niedergangs der Stadt dann eine Gesellschaft, die »Nobile Societá di Palchettesti« (‚Die adlige Gesellschaft der Logenbesitzer‘) gegründet. Oder: Von den prächtigen „scuole“, eigenen Gebäuden bürgerlicher Korporationen, gab es circa 80 in Venedig und nicht nur sechs, wie Bruls schreibt. Ob die Scuola San Rocco „zweifelsfrei die schönste“ unter diesen ist, darüber kann man streiten: es ist jedenfalls die protzigste und neureichste. Und Bruls Kritik an der Architektur des Bahnhofs Santa Lucia, dem Hauptbahnhof von Venedig, muss man auch nicht teilen. Das tut dem Werk aber insgesamt keinen Abbruch. Die Fülle der Geschichten, die der Autor zu erzählen weiß, ist großartig, und auch der geübte Venezianer erfährt im musikgeschichtlichen und literarischen Bereich vieles Neues. Der Anhang mit „Literatur zum Weiterlesen“ und „Musik zum Weiterhören“ enthält zudem vielfältige Anregungen.

Ende Oktober 2020: ich stehe wieder mit Fortunato Ortombina rauchend vor der Oper, diesmal bei schönstem Wetter auf dem Campo S. Fantin. Das Konzert ist gerade zu Ende. Es sollte erst mal wieder das letzte sein. Die Sommersaison hatte stattfinden können. Das Parkettgestühl war ausgeräumt, um in gebotenem Abstand Orchesterkonzerte, Liederabende , sogar Chorkonzerte und eine szenische Aufführung einer Oper von Vivaldi stattfinden zu lassen. Die Zuschauer waren auf die Logen verteilt; Familien, Paare durften in eine, Einzelpersonen bekamen eine eigene. Aber auch damit war jetzt wieder Schluss. Fortunato war deprimiert. „Wie geht’s in Dresden?“ „Ich war den ganzen Sommer in Venedig, ich weiß es nicht, aber ich glaube, nicht so gut.“ Die Entscheidung der Kultusministerin zum Ende der Ära Theiler und Thielemann war da noch weit entfernt. 

Das Neujahrskonzert 2022 wird Fabio Luisi dirigieren. Der war auch mal in Dresden. 

Stefan Heinemann: geboren 1951 in Mönchengladbach, Jurist, Kunstsammler und Konzertveranstalter, ist Mitglied im Freundeskreis des Teatro La Fenice und bei den Amici della Collezione Peggy Guggenheim, Venezia.

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