Ekkehard Klemm, das musikalische Dresden kennt Ihre Biografie gut, denke ich. Sie waren Kruzianer, haben bei Ihrem verehrten Lehrer Siegfried Kurz Dirigieren und bei Manfred Weiss und Wilfried Krätzschmar Komposition studiert. Nach Stationen in Greifswald und München, am Gärtnerplatztheater, wurden Sie vor über zwanzig Jahren an Ihrer ehemaligen Hochschule in Dresden selbst zum Dirigierprofessor, später gar zum Rektor ernannt. Lange Jahre waren Sie Chef der Singakademie und ab 2017 parallel noch Chefdirigent der Elbland Philharmonie; ein Amt, das Sie jetzt, acht ausgefüllte Konzertsaisons später, abgeben werden. Lange Vorrede, kurze Frage: was hatten Sie 2017 für ein Orchester von Christian Voß übernommen, und was für ein Orchester werden Sie demnächst an Ihren Nachfolger Hermes Helfricht übergeben?
Die Elbland Philharmonie Sachsen war 2017 noch sehr geprägt durch die Fusion zwischen dem Riesaer Orchesterteil und dem Orchester der Landesbühnen Sachsen, die ja recht unterschiedliche Aufgabenbereiche hatten. Standen auf der einen Seite neben sinfonischen Konzerten viele Formate gerade im Unterhaltungsbereich auf der Tagesordnung, waren es bei den Landesbühnen insbesondere die Sinfoniekonzerte und Musiktheaterprojekte. Durch die Fusion gab es zudem ein Generationenproblem: Fusionierte Orchester dürfen ja bestimmte Stellen erst dann nachbesetzen, wenn die Überhänge abgebaut sind. Das führt dazu, dass alle Fusionsorchester, egal, ob Gera/Altenburg, Zwickau/Plauen, Riesa/Radebeul oder sogar der MDR in Leipzig eine Zeit lang mit Überalterung zu kämpfen hatten und es lange dauerte, ehe der dringend notwendige Generationenwechsel anlaufen konnte. Der hat bei der Elbland Philharmonie in den letzten Jahren stattgefunden. Wir konnten jährlich fast 7-8 Stellen mit jungen Kräften neu besetzen, während verdiente Kolleginnen und Kollegen in den Ruhestand gegangen sind.
Das Orchester ist also ein ganz anderes als 2017 geworden?
Ja, die Balance zwischen ambitionierten Sinfoniekonzerten als Basis der künstlerischen Arbeit, Unterhaltungskonzerten, sehr vielen Schul- und Familienkonzerten, besonderen Formaten wie z. B. den Hip-Hop-Programmen oder unserem erfolgreichen Hologramm-Konzert »Unten im Meer«, den umfangreichen Musiktheater-Projekten an den Landesbühnen und sehr vielen kammermusikalischen Aktivitäten ist eine völlig andere geworden und prägt unsere Arbeit. Die ehemaligen „Riesaer“ sind mittlerweile Musiktheater-Profis geworden, die ehemaligen „Radebeuler“ musizieren ‚mit Schmackes‘ die Unterhaltungskonzerte mit Tom Pauls, Peter Kube oder die allein 10 Neujahrskonzerte pro Jahr… Es gibt keine Berührungsängste mehr, weder untereinander noch einem bestimmten Repertoire gegenüber. Die Elbland Philharmonie ist hinsichtlich des Repertoires eines der vielfältigsten Orchester der Region. Die Kooperation mit der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und jene mit Hellerau und seinen zeitgenössischen Impulsen bildeten eine extra Linie, die es zu erhalten gilt und die vorher nicht in diesem Maße ausgebaut war. Dass die Zusammenarbeit mit den Chören und Kantoreien ebenso in stabilen Bahnen läuft und zu den tragenden Säulen gehört, ist eine weitere wichtige Aufgabe auch für die Zukunft.
Ein Thema, was Ihnen als Chor- und Orchesterdirigent immer wichtig war: zeitgenössische, gern auch mal richtig sperrige Tonsetzer. Dann wiederum fallen mir schwierige, lange, klassische Werke ein, die Sie im Jahresrhythmus immer wieder aufs Programm gesetzt haben. Beides klingt nicht unbedingt populär, wenn Intendanten neue, breitere Zielgruppen gewinnen wollen. Darf man, muss man das Publikum heute überhaupt so herausfordern? Oder diktieren die klammen kommunalen Geldgeber nicht längst anderes?
Das ist eine interessante Frage, die mich seit 42 Jahren beschäftigt. Der Kanon dessen, was wir musizieren, ist leider so eingeschränkt, dass meines Erachtens jede Erweiterung immer gut tut und letztlich auch notwendig ist. In Dresden wird genügend Strauss und Wagner musiziert, auch wir haben Mozart, Beethoven, Brahms, Dvořák, Bruckner, Debussy, oder Bartók gespielt – daneben aber auch Naumann (hier sogar mit einer Opernausgrabung im Schülerkonzert!), Rautavaara, Draeseke, Braunfels oder Carl Nielsen (dessen 4. Sinfonie habe ich in Dresden übrigens erstmals als 16-jähriger unter Blomstedt gehört!).
Zeitgenossen also, aber vor allem eben auch die Komponisten und Komponistinnen aus dem Osten sind Ihnen ein Anliegen gewesen, auch hier wollten Sie Schwerpunkte setzen.
Das hängt mit meiner biografischen Prägung im Kreuzchor wie auch mit meinem persönlichen Interesse am Komponieren zusammen. Bach, Mozart, Haydn, Mendelssohn, Schumann bis hin zu Mahler waren alle gleichermaßen Schöpfer und Interpreten. Dass dieses Ineinandergreifen von Komponieren und Ausführen heute zu einem – mit Swarowsky: – „Kult der Affen Beethovens“ geworden ist, halte ich für problematisch und hat viel mit den Medien von der Schallplatte über die CD bis hin zu YouTube zu tun. Die Identität zwischen Komponist und Interpret ist lange Zeit ein Garant dafür gewesen, dass das bürgerliche Konzertwesen sich lebendig entwickelt hat. Die Kunst meiner Zeit ist doch das, was mich am meisten interessiert?! Natürlich sind die Seelenzustände einer Mozart-Oper ewig gültig (und in meiner Wahrnehmung übrigens viel interessanter als der soundsovielte »Ring« von Wagner, sei er auch auf historischen Instrumenten musiziert…), dass wir aber darüber die Musik unserer Zeit völlig vergessen, ja ignorieren, ist mehr als eine Unterlassungssünde. Es ist ein Versäumnis, dessen wir uns schuldig machen.
Hier mit der Elbland Philharmonie einige Löcher zu schließen und mit Weiß, Krätzschmar, Goldmann, Schleiermacher, Voigtländer, Franke, Thiele, Katzer, Karsten Gundermann, Karoline Schulz oder René Hirschfeld und auch ganz junge Komponistinnen und Komponisten zu musizieren, die zwar im Osten geboren oder sozialisiert sind, aber die eigentliche Zeit ihres Schaffens nach 1990 vollbracht haben, halte ich für eine ganz grundständige Aufgabe, derer sich die Spitzenensembles leider weitgehend entziehen. Dort ist der Blick auf – meist auch noch sehr erfahrene – internationale Prominenz gerichtet. Die Musik vor Ort geht damit den vielbeschworenen Bach hinunter, die Partituren eines Wilfried Krätzschmar oder Lothar Voigtländer werden von den Dramaturgien mit kühnem Schwung, Dank und freundlichen Grüßen zurückgesandt. Die Dresdner Philharmonie hat mit der 2. Sinfonie des kürzlich verstorbenen Christfried Schmidt und mit »In memoriam Martin Luther King« von Schenker eine ebensolche Ausnahme gemacht wie die Staatskapelle im Aufführungsabend mit dem Violinkonzert von Jörg Herchet. Solches Engagement müsste regelmäßig und normal sein.
Nun interessieren mich Ihre Überlegungen als Lehrer und Rektor: heutige Dirigenten (und – auch in Ihrer Klasse – Dirigentinnen) machen, wenn die Sterne richtig stehen, rasend schnell Karriere, überspringen Stufen, die eine klassische Karriereleiter Jahrzehnte lang ausmachten, und sind dann auch schnell von hohen Anforderungen ausgebrannt. Wie schafft man es als Lehrer, seine Schützlinge auf eine solide, nachhaltige Karrierelaufbahn zu setzen? Handwerk, klar; aber wie muss das Mindset aussehen, und was für einen Einfluss hat ein Lehrer darauf?
Die klassische Quadratur des Kreises lautet für mich: Ratio – Empathie – Qualität – Charisma. Zu deutsch: Tiefe des Wissens, Kraft des Fühlens, Schönheit des Könnens und Lust des Vermittelns. Wer diese vier Teilbereiche verinnerlicht hat und jedes Mal neu durchdringt, ist eigentlich gut aufgestellt. Ich schaue mit etwas Furcht auf (zweifelsohne hochbegabte!) Jungstars, die mit fünfundzwanzig bereits im Olymp von Amsterdam und Chicago angekommen sind aber interpretatorisch eigentlich noch kaum wirkliche Akzente setzen konnten, von ausdauernder Zusammenarbeit mit Komponistinnen und Komponisten ihrer Zeit mal ganz abgesehen. Schauen wir mal, von wem in fünfzig Jahren noch die Rede ist. Interessant, dass sich heute kaum noch jemand für Karajan interessiert, während Leibowitz, Busch oder Gielen ausgegraben werden. Dirigieren ist definitiv ein Erfahrungsberuf. Eine breite Ausbildung ist dafür die Basis – was dann jeder und jede draus macht, steht auf anderen Lebensblättern. Von meinen – seit 2003 – circa 65 Studierenden sind über neunzig Prozent im Dirigieren tätig. Ich denke, das ist keine schlechte Quote.
Themawechsel: nächste Woche steht die Mitgliederversammlung der GEMA an, als Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Künste warnen Sie vor Veränderungen im Vergütungssystem. Was ist da geplant, was fordern Sie von den Entscheidern?
Wenn wir genauer wüssten, was ansteht, könnte viel gezielter reagiert werden. Die Kommunikationsstrategie ist eine der größten Kritikpunkte. Die Befürchtung ist, dass die sogenannte E-Musik, die bisher auch solidarisch von den viel größeren Einnahmen im Bereich U-Musik unterstützt wurde, als eigenständige Sparte abgeschafft wird und die neuen Strukturen die Einbußen nicht abfangen werden. Insbesondere junge Komponistinnen und Komponisten werden davon betroffen sein und massive Einkommensverluste haben, wobei von einem „Einkommen“ im klassischen Sinne ohnehin keine Rede sein kann. Die generelle Entwicklung zu einer Dominanz der Popmusik ist jeden Tag auf DLF oder DLF Kultur zu verfolgen: Während in den Wortbeiträgen etwa von »Fazit – Kultur vom Tage« viel über avancierte Kunst, neueste Ausstellungen oder Inszenierungen berichtet und über aktuelle Entwicklungen diskutiert wird, schrumpft der Anspruch in den zwischengeschalteten Musiktiteln auf ein unterhaltsames Format in Dur und Moll mit in aller Regel betonter Zwei und Vier. Unter dem Diktat einer von Meta, Musk und Algorithmen dominierten Entwicklung wird das, was unsere Musikkultur geprägt hat, dem Erdboden gleich gemacht werden.
Unbequeme, widerständige Komponisten geraten immer mehr in den Hintergrund, „Verwerter“ in den Vordergrund?
Ja, daher haben wir folgendes gefordert: eine transparente Offenlegung geplanter Änderungen; einen Erhalt des Solidarprinzips zwischen den Vertreter:innen von U- und E-Sparten; den Schutz und die besondere Förderung avancierter Konzepte; eine faire und offene Diskussion verschiedener Konzepte, Ansätze und Reform-Ideen; die Offenlegung von Zahlen, die zu Berechnungsgrundlagen verwandt werden; den im Verhaltenskodex festgehaltenen wertschätzenden Umgang und die Rückkehr zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit allen GEMA-Mitgliedern.
Schlusskurve! Kurt Masur hat bis in seine späten Achtziger dirigiert, Herbert Blomstedt wird dieses Jahr 98 und feiert vielleicht vorm Orchester, um nur zwei in Dresden verehrte Pultkollegen zu nennen. Wie planen Sie, die nächsten zwanzig, dreißig Jahre zu verbringen? Was ist für Sie künstlerisch noch offengeblieben, was wünschen Sie sich? Und: melden Sie sich vielleicht auch wieder einmal auf »Musik in Dresden« als Autor zu Wort?
Masur und Blomstedt sind beide absolute Ausnahmekünstler, bei denen das Publikum sich auch bis ins hohe Alter dafür interessiert, wie sie mit Musik umgehen. Wie jung im Denken gerade Blomstedt dabei geblieben ist, konnte ich vor einigen Jahren mit der »Eroica« in Dresden erleben, die eine der modernsten Lesarten war, die ich je gehört habe! Und im gleichen Konzert spielte er seinen Landsmann Ingvar Lidholm und verschaffte ihm mit einer engagierten Einführung und einem überzeugenden Dirigat einen riesigen Erfolg! Vorbildlich! Blomstedt ist der Gottvater unserer Zunft!
Von meiner Jugend an interessiere ich mich für die Komposition ebenso wie für das Dirigieren. Ich hoffe auf etwas mehr Zeit, vielen Ideen Raum zu geben. Auch liegen allerhand Texte auf dem Schreibtisch oder im PC, die vielleicht einer Veröffentlichung würdig sein könnten – einiges über zeitgenössische Komponisten ist ja in den letzten Jahren bereits erschienen. Das ist eine Linie, die ich durchaus fortsetzen möchte.
Ein Musikkritiker bin ich sicher nicht, aber mich gelegentlich auf »Musik in Dresden« zu Wort zu melden – warum nicht!
Herzlichen Dank für das Gespräch.
»Bilder aus Ungarn«
Philharmonisches Konzert
Elbland Philharmonie Sachsen
Leitung: Ekkehard Klemm
11. Mai 2025, 17 Uhr
Landesbühnen Sachsen Radebeul
Programm
Franz Liszt
»Rakoczy Marsch«
Ernő Dohnányi
»Konzertstück für Violoncello und Orchester D-Dur op. 12«
Solist: Sebastian Fritsch
Bela Bartok
»Tanzsuite Sz. 77, BB 86a«
Zoltán Kodály
»Tänze aus „Galanta“«