Scroll Top

Ein Ort für Kunst, Gespräche und Wein

»Im/Mobility« im Großen Saal des Festspielhauses (Foto: Lotte Müller)

Das große »Musik-in-Dresden«-Sommerinterview fand dieses Jahr am Europäischen Zentrum der Künste statt: mit der Hellerauer Intendantin Carena Schlewitt und den beiden Programmleitern Moritz Lobeck (Musik und Medien) und André Schallenberg (Theater und Tanz) sprachen Boris Michael Gruhl und Martin Morgenstern.

In den letzten Tagen wurde mit Ioannis Mandafounis ein würdiger Nachfolger für Jacopo Godani gefunden. Ob auch die tänzerische Geschichte Helleraus unter seiner Leitung wieder etwas stärker in den Fokus rückt? Stichwort ‚Verführbarkeit des deutschen Ausdruckstanzes’…

Carena Schlewitt: Wir haben uns natürlich auch über die Ernennung von Ioannis Mandafounis gefreut. Er ist in Genf angesiedelt, ich kenne Ioannis von seinen früheren Arbeiten und aus unserer Zusammenarbeit in der Kaserne Basel, unter anderem auch mit einem Projekt im Kunstmuseum Basel. Er ist ästhetisch offen, was die Bühnenformate und Projekte im öffentlichen Raum betrifft und er ist interessiert an gesellschaftlichen Fragen, die er choreografisch übersetzt. Wie ich ihn einschätze, ist er auch an geschichtlichen Zusammenhängen, beispielsweise an der Geschichte von Hellerau, sehr interessiert. Mandafounis ist ein etablierter Künstler, und wenn er jetzt kontinuierlich mit einer eigenen Company arbeiten kann, ist das für ihn der nächste Schritt.

Waren Sie persönlich an der Auswahl von Mandafounis beteiligt?

Carena Schlewitt: Es gab ein internationales Expertengremium, das eine Vorauswahl von Kandidat:innen traf, dem ich angehörte. In der Findungskommission waren dann die Vertreter:innen der Städte Dresden und Frankfurt a.M., der Bundesländer Sachsen und Hessen und des Aufsichtsrates der Company. Der Aufsichtsrat hat letztendlich die Entscheidung getroffen. Für den Herbst 2023 erarbeitet Joannis Mandafounis einen ersten Vorstellungsblock, im Dezember 2023 werden wir die Company unter seiner Leitung das erste Mal in HELLERAU haben. 

Die Sächsische Staatsoper bekommt ja ebenfalls 2024 eine neue Intendantin, es gibt eine hochprofessionelle Tanzcompany am Haus. Auch wenn der ursprüngliche Versuch einer Kooperation zwischen HELLERAU und Semperoper nicht funktionierte: Gibt es schon Kontakte zu Frau Schmid?

Carena Schlewitt: Ich habe mit ihr noch nicht gesprochen. Aber unsere gemeinsamen Interessen reichen ja auch in den Bereich Musik und Musiktheater. Ich bin sehr offen für Kooperationen. Man muss bei einer solchen Zusammenarbeit immer schauen: Was ist das Spezifische, das die Partner einbringen können?

Moritz Lobeck: Zur Semperoper, Semperoper Ballett und Staatskapelle bestehen bereits sehr gute Kontakte. Mit der Staatskapelle haben wir seit 2019 eine jährliche Kooperation für ein Portraitkonzert des jeweiligen Capell-Compositeurs, am 19. April 2023 wird so Olga Neuwirth im Rahmen der Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik von der Staatskapelle in HELLERAU präsentiert. Leider mussten einige der gemeinsamen Pläne mit der Semperoper während Corona abgesagt oder verschoben werden. In Graz gibt es den internationalen Musiktheaterwettbewerb RING AWARD, vielleicht ergeben sich ja auch auf diesem Gebiet perspektivisch Möglichkeiten der Kooperation, dann mit der neuen Opernintendanz.

»Im/Mobility« (Foto: Lotte Müller)

Carena Schlewitt: Andere Stränge fände ich auch interessant. Dada Masilo war gerade mit ihrer neuen Choreografie „The Sacrifice“ bei uns. Sie widmet sich den Klassikern des Balletts und macht extrem überraschende Interpretationen, Adaptionen dieser Stoffe. Wir werden auch unser Festival »Erbstücke« fortsetzen und wenn sich in dem Kontext Kooperationen ergeben, kann das nur spannend sein.

In HELLERAU begibt sich die sächsische Szene in den Dialog mit europäischen Einflüssen. Täuscht mich mein Eindruck, oder stagniert dieser Austausch gerade etwas?

Carena Schlewitt: Als ich hier in HELLERAU begann, gab es die Reihe »Linie 08«, ein wichtiges Format. Wir haben dann durch Koproduktionen begonnen, die Zusammenarbeit mit der sächsischen und Dresdner Szene projektorientiert zu intensivieren und es sind mittlerweile viele abendfüllende Stücke sowohl von jungen als auch etablierten Künstler:innen entstanden. Nicht zuletzt hat TANZPAKT Dresden von 2019 bis 2021 viel bewirkt und am Ende mit zehn Neuproduktionen eine beachtliche ästhetische Bandbreite gezeigt. Ich sehe da eine positive Entwicklung in der Szene, auch wenn durch Corona viele Veranstaltungen nicht oder nur adaptiert stattfinden konnten. Insgesamt ist zu bemerken, dass die Künstler:innen nicht mehr so kurzatmig an die Stücke herangehen. Unterstützt wurde diese Arbeitsweise durch die Residenzmöglichkeiten in den letzten beiden Jahren, ein wichtiges Instrument der Förderung. Die Dresdner Szene ist auch außerhalb Dresdens viel sichtbarer geworden! „Bei euch in Dresden tut sich was!“, höre ich oft.

Der mit großer Kraft einstudierte Radebeuler »Nussknacker« mit einer Zuckerfee im Rollstuhl unter Wagner Moreira, das hatte einen wunderbaren, ganz besonderen Humor… Ich nehme an, mit der neuen Tanzchefin Natalie Wagner gibt es auch schon Gespräche?

André Schallenberg: Ich kenne sie ganz gut, sie hat an der Palucca Hochschule für Tanz den Master in Choreografie absolviert, für den ich gelegentlich Seminare gebe. Sie arbeitet sich gerade ein, war mehrfach schon als Gast bei uns. Ein Gespräch zu ihren Plänen steht noch aus, das wird aber sicher bald stattfinden. Grundsätzlich ist ein großer Vorteil der Arbeit mit der Tanzszene vor Ort, dass sie originär für unseren schon sehr speziellen Raum arbeitet und ihn daher auch ganz anders nutzen kann. Im Herbst eröffnen wir unsere Saison beispielsweise mit dem Schwerpunkt »Come together«. »Im/Mobility« der Leipziger Choreografin Lotte Mueller wird eines der Stücke sein, das den ganzen Raum nutzt. 

Ja, Helleraus Alleinstellungsmerkmal, das „umbaute Licht“. Wie kommt es eigentlich, dass damit so wenig umgegangen wird? Meist kommen die Künstler und bauen sich einen schwarzen Vorhangraum.

Moritz Lobeck: Viele Produktionen müssen touren können, also eher an einem Bühnenstandard orientiert planen. Leider ist selten Zeit, um eine Produktion speziell für HELLERAU und die räumlichen Möglichkeiten zu entwickeln oder zu adaptieren. Umbauten, Adaptionen sind immer auch mit Technikaufwand und Geld verbunden. Wir finden das oft auch schade, aber so sind nun mal die Zwänge. Wir hatten aber schon viele Produktionen, die mit dem weißen Raum gearbeitet haben, die hohen Fenster offen gelassen oder sogar die Türen in den Garten hinaus geöffnet haben – wie kürzlich the guts company, das Konzert von Katia und Marielle Labèque im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele, Rebecca Saunders mit einer Adaption von »Stasis« oder Robert Lippok und Maryvonne Riedelsheimer mit einem mehrstündigen, Innen- und Außenräume verbindenden Audio-/Video-Projekt im Rahmen der Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik. Ein besonderes Raumereignis war auch die Musiktheaterproduktion »Schlachthof 5« von Maxim Didenko, hier sogar mit komplett geöffnetem Orchestergraben.

Stichwort Publikumsentwicklung: Was ist hier in HELLERAU im nächsten Jahr geplant?

Carena Schlewitt: Grundsätzlich läuft ja gerade eine Publikumsdiskussion, die u.a. beim Theatertreffen Berlin losgetreten wurde. Wir alle bemerken: Das Publikum kommt nicht sofort zurück wie vor Corona. Und wir nehmen das Thema sehr ernst. Ich frage mich nur, warum wundert uns das? Es gab zwei Jahre eine Pandemie mit großen gesellschaftlichen Fragen und Problemen und zum Teil extremen privaten Belastungen. In den Theatern gab es viele Terminänderungen und Verschiebungen. Die Häuser, und damit öffentliche Räume der Begegnung, wurden geschlossen, dann gab es diesen „Stop and Go“-Modus zwischen Öffnung und Schließung, mit unterschiedlichen Maskentypen und Tests etc. Ich finde, das Publikum hat ganz schön viel mitgemacht in den letzten Jahren und wir sollten uns jetzt auf einen Annäherungsprozess einstellen. Unsere asiatischen Kolleg:innen haben zu Beginn der Pandemie gesagt, dass ihr Publikum nach der SARS-Pandemie (2002/2003) ein Jahr gebraucht hat, um zurückzukommen. Und Corona ist noch nicht vorbei. 

Diese Diskussion ist also nicht neu, natürlich denken wir momentan verstärkt auch über unser Publikum nach. Wir haben sehr diverse Zielgruppen, viele junge, aber durchaus auch ältere Menschen. Es gibt ein Stammpublikum, und es gibt ein dezidiertes Musik-, Tanzpublikum und so weiter. Es gibt Besucher:innen, die an bestimmten gesellschaftlichen Themen interessiert sind. Die Frage von partizipativen Projekten in Zeiten von Corona hat uns beschäftigt. Normalerweise sind das wichtige Projekte, aber wie ist das, wenn man sich nicht begegnen darf? Das Ganze ist also sehr ausdifferenziert. Und: das Publikum insgesamt bucht noch kurzfristiger als vorher seine Tickets. Wir fragen uns, was sind die Themen, die momentan in der Luft liegen? Wir beschäftigen uns mit der Publikumsfrage, aber gleichzeitig sollten wir keine schlechte Stimmung verbreiten. Denn das Publikum kommt ja wieder, wir bemerken eine Entwicklung und wir hatten auch bereits wieder tolle Abende, voller Begeisterung und mit positiven Reaktionen. Ich bin eher optimistisch, ohne die Situation zu idealisieren. Es ist ein Prozess, an dem wir dranbleiben müssen. Auf jeden Fall ist das Publikum für uns und unsere Arbeit, für den Ort, für die Künstler:innen existentiell wichtig.

Moritz Lobeck: Die Frage nach dem Publikum hatte sich tatsächlich schon viel früher gestellt. Zu den bisher immer fokussierten demografischen Fragen kommt jetzt eine neue Konkurrenz um Aufmerksamkeit und die radikale Unterbrechung von Gewohnheiten hinzu. Es ist sicher ein Vorteil, dass sich durch Corona über Generationen hinweg eine neue Bereitschaft und auch neue Kompetenzen für das Digitale entwickelt haben. Zukünftig wird es auch deshalb in HELLERAU einen starken thematischen Schwerpunkt zur Digitalen Transformation geben, allerdings in einer Betonung der gemeinsamen Live-Erlebnisse und der Schnittmengen zwischen analogen und digitalen Welten. Kunst sollte aber unbedingt weniger nur an „Publikumszahlen“ gemessen werden, gerade die Politik muss hier aufmerksam bleiben und genauer beurteilen, wo und wie Kunst Zukunftsentwürfe und verschiedenste Kompetenzen, Innovationen, kritische und kreative Impulse entwickelt und den Umgang mit Traditionen und Machtstrukturen thematisiert.

„Ein Ort, wo man sich für die Kunst trifft, ins Gespräch kommt, einen Wein trinkt…“ (Foto: Samira Hiam Kabbara)

André Schallenberg: Wir schieben ja insgesamt im Kulturbetrieb eine Bugwelle an Projekten vor uns her, die aufgrund von Corona nachgeholt wurden. Der Hunger nach Kultur ist da, aber das Angebot ist gerade sehr groß. Und man will vielleicht auch in seinen Kleingarten, in die Kneipe gehen, ins Schwimmbad. Die Frage ist: Was macht man eigentlich mit seiner Lebenszeit? Was ist ein guter Abend? Ich würde sagen: Die Leute orientieren sich neu. Da sehe ich die Herausforderung. Wir in HELLERAU bieten Kunsterlebnisse – Tanz, Musik, Performances, also zeitgenössische Live-Künste. Wir sind ein Ort, wo man sich für die Kunst trifft, ins Gespräch kommt, einen Wein trinkt, Diskursqualität schafft. Und man kann sogar noch einen Aufenthalt im Grünen damit verbinden, bei uns im Kulturgarten oder in der Gartenstadt.

Carena Schlewitt: Die öffentlichen Kulturorte müssen erst einmal wiederentdeckt werden. Ich fühle mich bei der momentanen Diskussion an 1989/1990 erinnert. Damals waren die Theater auch leer. Man fragte sich: Ist das Theater überhaupt noch relevant? Man muss akzeptieren, dass das damals eine Theater-Krise war. Jetzt überlagern sich die Krisen mehrfach, das ist das Zeichen unserer Zeit. Wir müssen uns also fragen: Wie können wir mit der Permanenz von Krisen umgehen?

André Schallenberg: Wir wollen zeigen, was unser Ort sein kann, wofür man ihn benutzen kann. Das Projekt und Festival »Young Stage« zum Beispiel, bei dem Kinder und Jugendliche zusammen mit professionellen Choreograf:innen Stücke erarbeiten, das ist wie ein schöner Pilz, der alle zwei Jahre wächst. Seine Fäden aber, also die künstlerischen Prozesse an den Schulen, verknüpfen unsichtbar das ganze Jahr über viele Orte. Auch das über viele Jahre gewachsene Residenzprogramm ist für unser Publikum eher unbekannt, bewegt aber unfassbar viel und mündet schließlich in vielen sichtbaren Projekten. Mein Gefühl ist, dass speziell der direkte Kontakt und die Arbeit miteinander durch Corona eher intensiviert worden ist. Die Workshops für alle in HELLERAU sind beispielsweise immer ausgebucht!

Wo kann das Publikum Sie alle das nächste Mal treffen, um solche wichtigen Fragen anzusprechen?

Carena Schlewitt: Am zweiten Sonntag im September zum Beispiel, zum Tag des offenen Denkmals. Grundsätzlich bei Künstlergesprächen, die wir regelmäßig durchführen und die auch sehr beliebt sind. Man kann uns im Haus ansprechen, vom HELLERAU Team ist immer jemand abends bei den Veranstaltungen im Haus. Auch wir sind oft da. An der Lago-Bar im Dalcroze-Saal oder draußen kommt man schnell ins Gespräch – auch mit den Künstler:innen nach den Vorstellungen. Und an jedem ersten Mittwoch im Monat von 17 bis 18 Uhr haben wir eine Telefonsprechstunde »HELLERAU am Apparat« eingerichtet. Da ist Christopher Utpadel, unser Kollege für Audience Development für alle Fragen erreichbar.

Foto: Peter Fiebig

Uns interessiert noch das Thema der verhüllten Wandbilder in den oberen Foyers. Wird da nicht ein wesentlicher historischer Aspekt dieses Hauses weggekürzt? Die Soldaten, die das gemalt haben, waren doch beschissen dran. Ihre Bilder waren Visionen. Sollte man über diese geschichtlichen Bilder nicht umso mehr reden momentan? 

Carena Schlewitt: In der jetzigen Situation des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nehme ich wahr: Die Wandbilder zeigen Kriegsbilder, zeigen Kriegskarten. Das sind ganz ähnliche Karten wie die, die man momentan in den Nachrichten sieht. Im Team entstand unmittelbar nach Kriegsbeginn die Diskussion, wie wir mit den Kriegsbildern umgehen. Wir hatten gerade ukrainische Künstlerinnen bei uns zu Gast, die vor dem Krieg geflohen sind. Wir wollten hier ein Zeichen des Respekts setzen und kriegstraumatisierte Menschen vor diesen Kriegsbildern schützen. 

Das heißt nicht, dass wir die Geschichte vernachlässigen! Wir haben uns für das gestalterische Element der durchsichtigen Verhüllung entschieden, man kann die Bilder hinter den Stoffbahnen erkennen. Und wir haben einen erklärenden Text hinzugefügt. Viele Besucher:innen haben uns signalisiert, dass sie diese Aktion sehr begrüßen. Solange der Ukraine-Krieg dauert, werden die Bilder temporär verhüllt bleiben. Im Übrigen haben auch andere Künstler:innen und Besucher:innen immer wieder diese Bilder befragt – eine Kontextualisierung ist in jedem Fall notwendig.

Vielen Dank für das ausführliche Gespräch.

(Die Fragen stellte Boris Gruhl. Redaktion und Kürzung: Martin Morgenstern)

Verwandte Beiträge