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„Ich bin keiner, der dem Orchester hinterherdirigiert“

Foto: Alexej Gorlatch

Nein, das war 1986 kein Regie-Einfall in dieser Semperoper-»Bohème« von Christine Mielitz, sondern einfach das wahre Leben: die schöne Mimì (Alicja Borkowska-Molęda) war von ihrem mittellosen Freund Rodolfo (Krzysztof Molęda) schwanger! 39 Jahre später kehrt nun Mateusz Molęda ans Haus zurück. Heute Abend debütiert er im 4. Aufführungsabend der Staatskapelle als Dirigent. 

Mateusz Molęda, der Dresdner Kritiker Hans Böhm lobte 1986 hymnisch einen Abend, in dem Ihre Eltern sangen. Ihre Mutter habe einen „beseelten Ton“ gehabt, ihr Vater einen „Blankoscheck für die Zukunft. Die Liebe hatte sie offenbar beflügelt! Wie kam es eigentlich, dass Marek Janowski damals in Dresden eine simple Repertoirevorstellung übernahm?

Janowski hatte ja hier von 1980 bis 1983 den »Ring« dirigiert. Er kam danach regelmäßig für sinfonische Konzerte wieder – und offenbar auch für Opern. Ehemalige Kapell-Mitglieder erzählten mir, dass er im Graben „zerdirigierte Repertoirestücke“ wieder auf Vordermann brachte.

Sie selbst haben Klavier studiert, konzertierten als Pianist – wie kam es dann zur Zusammenarbeit mit ihm?

Meine Mutter meinte irgendwann, ich bräuchte einen Mentor. Wir gingen die Dirigenten durch, unter denen sie gesungen hatte – und ich schrieb Janowski, der damals Chef beim RSB war. Am nächsten Tag rief er an, und ich machte mich auf den Weg zu einer Messiaen-Bruckner-Probe. Seine spröde Art des Probens faszinierte mich. „Ihr seid zu laut, zu leise, zu hoch, zu tief, zu schnell, zu langsam.“ Wir unterhielten uns dann in der Pause, er erinnerte sich natürlich an meine Eltern, und ich fragte ihn, ob ich beim nächsten Projekt wiederkommen könne, schickte ihm Videos, die er kritisch seziert hat – aber ich blieb dran. In Probenpausen habe ich ihn mit Fragen gelöchert. Er hat nicht ein einziges Mal grantig reagiert. Als ich ihm von meinem Kapell-Debüt erzählte, sagte er ohne Umschweife: „Die Apotheke im letzten Satz der Schottischen – machen Sie das um Gottes Willen nicht zu langsam!“

Sie haben ihm auch bei Opern assistiert?

Ja, bei der »Euryanthe« in Dresden, dem »Freischütz« beim hr-Sinfonieorchester – dabei habe ich dann jeweils auch viel mit den Sängern gearbeitet. Dann nahm er mich zu den Berliner Philharmonikern mit, für Bruckners 4. und 6. Sinfonie. Ich verdanke ihm viel, seine Art zu arbeiten prägt meine Proben bis heute. Aber es war auch eine Herausforderung: Ich kam in eine Identitätskrise. Früher war da viel wilde und unnütze Show. Er hat mich davon befreit – ich habe mich aber zeitgleich eingeengt gefühlt. Heute, zehn Jahre später, bin ich einfach nur ich selbst.

Was haben Sie aus seiner Arbeit mit der Dresdner Philharmonie gelernt?

Nach Michael Sanderling, den ich seit zwanzig Jahren kenne, sehr schätze und mit dem ich befreundet bin, war Janowskis Kurs ein anderer, strengerer. Trotzdem, man muss ein Orchester atmen lassen, Freiräume geben. Und ich sage auch ehrlich: Ich habe bei ihm durchaus gelernt, wie man sich vielleicht manchmal lieber nicht verhalten sollte. Übrigens, davor hat er mich selbst mehrfach gewarnt. Er kommt eben aus einer ganz anderen Zeit. Als er im Graben angefangen hat – Mitte der 60er-Jahre – da haben nur Männer im Orchester gespielt. Die Gangart war viel härter. Heute, im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie, zählen neben musikalischer Qualität auch noch andere Dinge. Die, die diese anderen Dinge im Übermaß zelebrieren, haben dann eine riesengroße Karriere. Janowski ist das alles vollkommen fremd. Er geht gern gut essen, trinkt gern edle Rotweine, aber das war’s auch. Mit Selbstvermarktung, Karrieredenken im Allgemeinen hatte er nie etwas am Hut. Ihm geht es ausschließlich um die Qualität des orchestralen Zusammenspiels. Oper konzertant von ihm zu hören, fand ich unglaublich erfrischend. Man sitzt da, hört »Götterdämmerung« – und merkt: Ah, das ist dir in der Partitur noch gar nicht aufgefallen! Klar, da singt jemand – aber was die Figur denkt, das kommt im Wechselspiel aus dem Orchester. Das hört man in einer szenischen Aufführung weniger – man ist von der Bühne abgelenkt. 

Wie können Sie diese Erfahrungen nun dirigierpraktisch umsetzen, können Sie mir da ein Beispiel geben?

Die Struktur seiner Proben habe ich komplett übernommen: Ein Abschnitt wird gespielt, Korrektur, Wiederholung. Kurz vor der Pause nochmal ein Durchlauf. Bei einem Orchester wie der Staatskapelle muss man dem, was die Musiker anbieten, stets mit Respekt begegnen. Man konzentriert sich ausschließlich darauf, was man hört – und entscheidet in Sekunden: Ist es wert, hier einzugreifen? Oder können die das in der Generalprobe allein und im Konzert noch besser? Es gibt aber auch durchaus Stellen, die ich sehr konkret arbeiten möchte. Der zweite Satz der »Schottischen«, den möchte ich sehr knackig, das muss über Augenkontakt mit dem Klarinettisten laufen. Die Trompeten im dritten Satz müssen äußerst vorsichtig sein, dürfen nicht zu sehr strahlen. Im vierten Satz möchte ich an einer Stelle ein Accelerando machen, das nicht in der Partitur steht. Ich bin keiner, der dem Orchester hinterherdirigiert.

2023 gewannen Sie den Kussewitzky-Wettbewerb – wie lief der ab?

Während Corona fielen viele Projekte aus. Bei der Dresdner Philharmonie gab es zum Beispiel ein Engagement, das bis heute nicht eingelöst wurde. Ich hatte auch andere wunderbare Projekte im Kalender: Konzerte mit dem Odense Symfoniorkester etwa, mit einer ausgedehnten Asien-Tournee in Kooperation mit dem Hans-Christian-Andersen-Museum und unter Schirmherrschaft des Dänischen Königshauses. All das ist ins Wasser gefallen. Ich nutzte die Zeit zur Reflexion – und kam auf Dirigierwettbewerbe. Beim Kussewitzky-Wettbewerb in Grosseto wurden 8 von 247 eingeladen. In der ersten Runde dirigierte jeder eine Stunde. Der Juryvorsitzende Vittorio Parisi, Professor für Dirigieren und seit über 20 Jahren Leiter der Dirigierabteilung des Verdi-Konservatoriums in Mailand, sprang wild durch die Partituren – wir waren fix und fertig. Im Finale zog ich Schuberts »Dritte«, hatte 90 Minuten Probenzeit. Ich zog mein strenges Janowski-Programm durch – Stringenz und Ökonomie – und hatte am Ende noch genau fünfzehn Sekunden, um mich beim Orchester zu bedanken, während die anderen beiden nicht fertig wurden. Ich bekam dann den 1. Preis und den Sonderpreis des Orchesters, was mir fast noch mehr bedeutet.

Wie hat sich Ihre Dirigentenkarriere seitdem weiterentwickelt? Sie selbst sind ja sozusagen ein Quereinsteiger, haben keine klassische Kapellmeister-Ausbildung. Wie kommt man da an Engagements?

Der Wettbewerbsgewinn hat natürlich geholfen. Kurz darauf kam die Einladung der Staatskapelle, ebenso wie weitere Engagements – etwa mit der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken oder der Warschauer Nationalphilharmonie. Ich arbeite mit lokalen Agenturen in ganz Europa und Japan, die mich auch mit kurzfristigen Einspringern versorgen. Letzten Monat übernahm ich zum Beispiel kurzfristig Bartóks sehr selten aufgeführte und komplexe »Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta« und Bruckners »Sechste« bei den Dortmunder Philharmonikern.

So erfüllend es sein kann, neue Klangkörper kennenzulernen und die musikalische Welt zu bereisen – wünschen Sie sich nicht auch heimlich mal, länger an einem Ort zu bleiben und intensiver mit einem Orchester arbeiten zu können?

Ja, irgendwann möchte ich auch langfristig Spuren hinterlassen. Bei zwei Stellen war ich schon im Rennen. Aber es müssen viele Faktoren stimmen: zuerst die Chemie mit dem Orchester, zweitens muss ein Konsens über das Repertoire bestehen. In Nordamerika müssen Sie auch noch Qualitäten im Fundraising und der Akquise von Sponsoren haben. Und letztens braucht man die Unterstützung der gesamten Leitungsebene, gerade als junger Dirigent. Ein Intendant oder eine Orchesterdirektorin müssen bereit sein, sich bei Problemen schützend vor den Dirigenten zu stellen – oder schlichtend einzugreifen und Position zu beziehen. Juri Temirkanow hat einmal gesagt: Dirigieren ist eine Aufgabe für die zweite Lebenshälfte. In der ersten Hälfte sammelt man musikalische Erfahrungen und lernt mit Menschen umzugehen.

Wie erleben Sie denn den derzeitigen Wandel des Dirigentenberufs?

Wir, die wir heute Ende dreißig oder Mitte vierzig sind, erleben gerade eine extreme Kommerzialisierung unseres Berufs. Und niemand kann es sich leisten, da nicht mitzuspielen. Die visuelle Komponente dominiert durch die sozialen Medien quasi alles, und auch mit Kritik nicht so gelungener Momente ist das Internet schnell bei der Sache. Auch Janowski ist das schon passiert. Kennen Sie das Video, wo er sich in markigen Worten über ein Orchester aufregt? Ich bin der festen Überzeugung: Wenn man sich mal im Ton vergreift – was mir glücklicherweise noch nie passiert ist – es aber aus tiefstem Herzen kommt, dann versteht das Orchester das. 

Insgesamt ist das Dirigieren für einen Freiberufler ein Fulltime-Job geworden, mit zwei Seiten: vier Stunden Partiturstudium, vier Stunden Management. Programme entwickeln, Probenpläne erstellen, Hotels und Reisetickets buchen, langfristige Strategien durchdenken, mit Journalistinnen und Journalisten sprechen – das gehört alles dazu. Die allerwichtigste Sache bleibt aber: auf der Bühne darf man am Ende keine Rolle spielen. Authentizität ist das höchste Gut in unserem Beruf.

Vielen Dank für das Gespräch.

4. Aufführungsabend der Staatskapelle Dresden

19.6.25 20:00 Uhr
Semperoper

Mateusz Molęda – Dirigent
Ami Yumoto – Violine

Felix Mendelssohn Bartholdy
Ouvertüre »Ruy Blas« c-Moll op. 95
Violinkonzert e-Moll op. 64
Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 »Schottische«

Tickets ausverkauft; ggf. Abendkasse

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