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Ausweglosigkeit im Sichtbeton

Die Übernahme von Leoš Janáčeks Oper »Káťa Kabanová« aus dem Nationaltheater Prag.

Kurt Rydl (Savël Prokofjevič Dikój), Sabine Brohm (Fekluša), Christa Mayer (Marfa Ignatěvna Kabanová), Simeon Esper (Tichon Ivanyč Kabanov), Nicole Chirka (Gláša), Ilya Silchuk (Kuligin), liegend: Amanda Majeski (Katěrina, genannt Káťa). Fotos (2): Ludwig Olah

Wer während des packenden dritten Aktes zufällig an die Decke schaut, blickt in den Abgrund. Die Fluten der Wolga, vom Regisseur Calixto Bieito in einem herabsenkbaren Wasserbecken auf der Bühne inszeniert, reflektieren das kaltweiße Licht der Verfolger schummrig brechend an der Decke des Opernhauses. Schaurig-schön schwebt dieses unfreiwillige Lichtkunstwerk über dem halbleeren Saal – der Tod über uns, den wenigen begeisterten Besuchern der Semperoper.

Káťa Kabanová geht ins Wasser. So steht es in Alexander Ostrowskis literarischer Vorlage »Gewitter« zu Leoš Janáčeks 1921 uraufgeführten Oper. Angesiedelt ist die Geschichte in einer reaktionären Welt russischer Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts. An den Ufern der Wolga des scheinbar so grenzenlosen, schönen, weiten Flusses herrscht große Beklemmung und Unfreiheit. Káťa ist verheiratet mit Tichon Kabanov, gesungen und gespielt von Simeon Esper, der mittlerweile eine feste Größe des Ensembles geworden ist. Verliebt ist Káťa jedoch in Boris (als Gast: der dänische Tenor Magnus Vigilius). Das toxische Familiengemisch der Kabanovs wird ergänzt durch die kalte, verwitwete Mutter Tichons, schaurig schön gesungen von Christa Mayer. Als Tichon für eine Geschäftsreise die Stadt verlässt, kommt es zum Zusammentreffen und je nach Deutung einer bis zehn Liebesnächten zwischen Káťa und Boris sowie im anschließenden Geständnis vor dem heimgekehrten, betrogenen Ehemann und einem dramatischen Freitod in der Wolga.

Die Übernahme aus Prag trumpft mit grandioser sängerischer (Amanda Majeski!) und schauspielerischer Leistung auf. Die Figuren sind in ihren jeweiligen Ausweglosigkeiten perfekt inszeniert. Jeder und jede verzweifelt an sich selbst und an dem Willen zur Freiheit, die es offensichtlich nicht gibt. Mit einfachen Mitteln (immer größer werdende Schatten der Sänger) geht die psychologische Bedrohung unter die Haut. Figuren versinken nicht nur im Wasser, sondern auch im Nebel, im Licht und im Klang der Staatskapelle.

Extrem zart, abwechslungsreich und wo nötig sensationell stark in der Höhe mit einem leichten Timbre, das die Abgründe ihrer Figur erahnen lässt: Amanda Majeski als Káťa

Denn musikalisch einmalig ist das Stück ein Best-of aus Verismo, Richard Strauss und tschechischer Folklore – alles Stärken der Staatskapelle. Der Abend wird daher unerwartet zu einer musikalischen Furore unter der Leitung von Alejo Pérez. Und man fragt sich: weshalb wird dieses Werk in Dresden nicht viel öfter gespielt? Die letzte Inszenierung, damals die Dresdner Erstaufführung, datiert auf – festhalten – das Jahr 1949!

Die Antwort liegt im Stück selbst: Kommentarlos werden hier veraltete Sitten und Sexualmoral auf die Bühne gebracht. Der Verstoß dagegen wird mit dem Freitod gestraft. Der musikalisch an den Grenzen der Tonalität angesiedelte, schaurig schöne Schwur der Káťa im ersten Akt, keine fremden Männer anzusprechen, ist textlich aus heutiger Sicht fernab jeden guten Geschmacks. Die aus der Zeit gefallene Kunstgattung Oper wirkt durch diesen unreflektiert auf die Bühne gebrachten Stoff nicht jünger. Bieito macht sich auch nicht die Mühe, diese Texte zu brechen. Er inszeniert auf gewohnt-routinierte Weise seine apokalyptisch bedrückenden Bilder – er abstrahiert, aber er hinterfragt nicht. So gut der Regisseur die einzelnen inneren Konflikte und die zwischenmenschlichen Beziehungen auf engstem Raum inszeniert, eine Gesamtdeutung des Stoffes gelingt ihm nicht (oder ist vielleicht auch gar nicht gewünscht?). Die Welt der Kabanová in einen Raum aus Sichtbeton ohne Auswege zu packen (Bühnenbild: Aida Leonor Guardia), welcher sich zum Schluss zu einem riesigen Wasserbad öffnet, ist plakativ, schön, aber nicht originell.

Auch eine kritische Einordnung abseits der Bühne fehlt: Das Programmheft widmet sich lang und breit den Sprachmelodien, Motiven und Janáčeks Person, nicht jedoch dem Thema des Stücks. Am Ende bleibt der Besucher mit vielen Fragen konfrontiert: mit welchen moralischen Verkrustungen war Janáček damals selbst konfrontiert? Und: welche Trümpfe muss die Staatsoper noch auffahren, um den Saal wenigstens halbvoll zu kriegen?

Letzte Vorstellung: 19. Mai 2024, Karten (ab 11 EUR!) hier.