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»Nicht das Erwartbare …«

Jörn Peter Hiekel hat eine Monografie über den Komponisten Helmut Lachenmann verfasst. Das 520-Seiten-Werk »Helmut Lachenmann und seine Zeit« wurde von der Zeitschrift Opernwelt umgehend zum »Buch des Jahres« gewählt.

In der Welt der Neuen Musik ist der Komponist Helmut Lachenmann eine feste Größe, eine Instanz. Inspiriert von den legendären Darmstädter Ferienkursen, widmete sich der 1935 in Stuttgart geborene Musiker einst der seriellen Musik, lernte bei Meistern wie Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono – und wollte in der Folge tradierte Hörgewohnheiten aufbrechen, erweitern; ja, die Schöpfung und Wahrnehmung von zeitgenössischer Musik erneuern.

Spätestens nach seinem großen Opernerfolg »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« ist Lachenmann weltweit anerkannt und gefeiert. Sein Wirken und Werden ist Gegenstand zahlreicher Publikationen. Kürzlich ist eine neue Monografie herausgekommen, die »Helmut Lachenmann und seine Zeit« einordnen soll. Verfasst wurde dieses 520 Seiten starke Buch von Jörn Peter Hiekel.

Dieser profunde Kenner des Komponisten ist Professor für Musikwissenschaft und Leiter des Instituts für Neue Musik an der Dresdner Musikhochschule Carl Maria von Weber und meint, man könne sehr viel lernen, wenn man mit der Musik von Helmut Lachenmann konfrontiert sei. Als Autor zahlreicher Schriften, zudem Dozent an der Hochschule der Künste in Zürich und nicht zuletzt Leiter des Vermittlungsprojekts KlangNetz Dresden ist Hiekel stets Lehrender und Lernender. Das begründet er so: »Man kann sehr viel lernen über die hoffentlich entstehende Neugierhaltung, das Entdecken von neuen Möglichkeiten, Klänge zu akzentuieren, Strukturen neu zu erfinden, auch neue Bereiche, Erfahrungsbereiche zu erschließen.«

Eine derartige Offenheit, verbunden mit Wissbegier, sollte an Kunsthochschulen zwar selbstverständlich sein, ist es Hiekel zufolge aber nicht. Lachenmann sei allerdings »ein geradezu idealer Komponist, um diese Sache zu lernen.« Jörn Peter Hiekel schreibt nicht zum ersten Mal über Helmut Lachenmann, dessen Schaffen er sich immer wieder gerne zuwendet: »Weil es in diesem Buch darum geht, immer wieder klarzumachen, wie sehr doch Lachenmann in dem, was er tut, an die große Tradition der europäischen Kunstmusik anschließt. Wir wollen genau das ja auch bei Beethoven erfahren, bei Brahms, Schumann, Schubert – wir könnten Hunderte von diesen wichtigen Namen nennen. Und daran schließt Lachenmann mit heutigen Mitteln und mit der Erschließung neuer Mittel auch an.«

Sowohl bei der Lektüre als auch im Gespräch ist spürbar, wie fasziniert Hiekel von Leben und Werk des Komponisten ist, den er bereits wiederholt an die Dresdner Musikhochschule einladen konnte: »Man erfährt bei jedem Besuch, bei jeder Begegnung wirklich Neues von ihm. Da hört man nicht das Erwartbare, nicht so viele unnötige Bemerkungen zu Dingen, die man ohnehin schon weiß, sondern wird auf ganz neue Dinge gebracht.« Das mit reichlich Notenmaterial und einem opulenten Bildteil versehene Buch ist nicht zufällig in der Reihe »Große Komponisten und ihre Zeit« erschienen, denn hier wird eine Einordnung von Lachenmanns persönlichem Schaffen in das gesellschaftliche Umfeld vorgenommen. Der Komponist spricht vergleichsweise wenig über die eigene Musik. Er widmet sich der Philosophie reden, redet über die Notwendigkeit, ein waches Wahrnehmen von Kunst zu pflegen, zu erlernen … – »und auch mit Studierenden zusammen Konstellationen zu erschaffen, wo dann Situationen früherer Zeiten reflektiert werden«, ergänzt Jörn Peter Hiekel. Bei seinem einstigen Lehrer Luigi Nono ist Helmut Lachenmann auch selbst ein Studierender geblieben, wenn er ihn in Venedig besucht hat. Das sei bei vielen großen Künstlerpersönlichkeiten so, meint Hiekel, »und allemal gehört Lachenmann dazu!«

Neben der bemerkenswerten Persönlichkeit des italophilen Schwaben Helmut Lachenmann schätzt Jörn Peter Hiekel als profunder Kenner natürlich besonders das umfangreiche musikalische OEuvre, über das er auch in »Helmut Lachenmann und seine Zeit« berichtet. »Mich fasziniert an diesem Werk, wie facettenreich es ist, eine Einladung, anders wahrzunehmen, Konstellationen zu entdecken, eine unglaublich reiche Sache, was die Möglichkeit des Neuentdeckens von Formen, Strukturen, Klängen und deren Zusammenspiel angeht. Es ist im Grunde eine sehr heitere Musik!«

Eine heitere Musik freilich mit sehr ernsthaftem Anspruch. Schließlich setzt Helmut Lachenmann große Traditionen fort. Hiekel würde daher nie von Neuer Musik sprechen, sondern »von neu erschließender Musik.« Obwohl nun auch die nächste Publikation von Hiekel zu Lachenmann schon bald erscheinen wird, macht der Autor nochmal deutlich, an wen er sich mit seiner von der Zeitschrift Opernwelt umgehend zum »Buch des Jahres« gekürten Schrift wendet: »Das Buch möchte eigentlich das bisherige Reden und Schreiben über Lachenmann auch ein bisschen in ein neues Stadium überführen, das ganz stark von dessen Werken ausgeht, und dieses Neuerschließen, was in seiner Musik passiert, erst einmal darlegen, vielleicht auch kontextualisieren, auch mit philosophischen und literarischen Bezugspunkten, vielleicht die wichtigen Werke als Kristallisationspunkt von außerordentlicher Faszinationskraft sichtbar zu machen.« Damit sei es eigentlich ein Buch, das sich durchaus an Nichtspezialisten richtet, so der Verfasser. Bereits im kommenden Frühjahr wird er ein weiteres Buch zu Helmut Lachenmann vorlegen, dann in der Edition Text + Kritik zum Thema der Philosophie- und Literaturbezüge des Komponisten.

Der 1963 in Göttingen geborene Professor, heute als Mitglied des Hochschulrats nicht nur für die Gesamtentwick­lung der Hochschule mitverantwortlich, sondern vor allem für den gesamten Bereich der zeitgenössischen Musik – sowohl hinsichtlich Komposition als auch in Sachen Interpretation – studierte einst Kontrabass sowie Musikwissenschaft, Kunstge­schich­te und Neuere Geschichte in Köln und Bonn. Bereits seit 2003 lehrt er an der Hochschule für Musik in Dresden, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, ab 2009 dann – nach seiner Habilitation an der TU Dresden – als Professor für Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Neue Musik sowie als Leiter des Instituts für Neue Musik. Neben seinen Lehrveranstaltungen holt er regelmäßig eine große Zahl international renommierter Gäste zu Workshops nach Dresden, sowohl Interpreten als auch Komponisten, von denen die Studierenden in hohem Maße profitieren.

Helmut Lachenmann und seine Zeit
Jörn Peter Hiekel
ISBN 978-3-89007-809-0
520 Seiten
Laaber Verlag 2023
46,80 Euro