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Ein Requiem auf die »Vielzuvielen«

Foto: Michael Ernst

Mit Hans Werner Henze von der Komischen Oper zum Flughafen Tempelhof: Meeressterben unter der einstigen Luftbrücke

Es war im Oktober vor elf Jahren: Die Sächsische Staatskapelle landete gerade zu einem Gastkonzert in Taiwans Hauptstadt Taipeh, als sie über den Tod von Hans Werner Henze informiert wurde. Dem 1926 in Gütersloh geborenen Komponisten war die Kapelle eng verbunden; sie hat sein Werk im Konzert, in der Oper und auch im Ballett gepflegt. Dass der seit vielen Jahren in Italien lebende Henze ausgerechnet in Dresden verstorben ist, machte die ideelle Beziehung zwischen ihm, dem Orchester und der Semperoper insgesamt nur noch enger.

Jetzt, im Oktober 2023, hat mich »Das Floß der Medusa« von Hans Werner Henze an die traurige Nachricht von damals erinnert. Zu erleben war dieses 1968 uraufgeführte Oratorium als ungemein heutige Produktion der wegen Renovierungsarbeiten vorübergehend geschlossenen Komischen Oper Berlin im schon lange stillgelegten Flughafen Tempelhof. Die Spielstätte Hangar 1 galt einst als weltweit flächengrößtes Gebäude, entsprechend bombastisch ist noch heute der Eindruck, den Regisseur Tobias Kratzer gemeinsam mit Ausstatter Rainer Sellmaier bestmöglich zu nutzen vermochten.

Zwischen zwei gegenüberstehenden Publikumstribünen erstreckt sich wirkmächtig eine spiegelnde Wasserfläche, deren eines Ufer vom groß besetzten Orchester beherrscht wird (allein zwölf Schlagwerker sind da gefordert!), vis-à-vis beeindruckt das gewaltige Stahltor, das freilich bis kurz vor Schluss der Aufführung geschlossen bleibt.

Die Geschichte des in seiner Frühzeit heftig umstrittenen Oratoriums geht auf ein Libretto von Ernst Schnabel zurück und rankt sich um den im Sommer 1816 erfolgten Schiffbruch der französischen Fregatte »Medusa«, die als Flaggschiff eines kleinen Geschwaders im Auftrag vom 18. König Ludwig afrikanische Kolonien zurückerobern sollte. Das auf einem Riff gestrandete Kriegsschiff konnte nicht wieder flott gemacht werden und drohte zu kentern. Die Nobilitierten unter den Kriegern bestiegen mitsamt den Vertretern des Klerus die mitgeführten Rettungsboote; die an Bord verbliebenen 154 »einfachen« Menschen wurden auf ein rasch zusammengezimmertes Floß gepfercht, wo im Laufe der kommenden Tage Durst, Hunger, Tod und Verzweiflung geherrscht haben. Lediglich 15 Menschen vom Floß haben überlebt und wurden genau einen Monat, nachdem die »Medusa« in See gestochen war, von einem anderen Schiff gerettet.

Für Hans Werner Henze mag diese Geschichte (von zwei Überlebenden notiert, von der französischen Zensur umgehend verboten) ein Menetekel gewesen sein. Er lässt sie vom Fährmann Charon erzählen, dem eine Frau Tod, La Mort, seelenheischend gegenübersteht. Der historisch verbürgte Matrose Jean-Charles, den auch Théodore Géricault in seinem opulenten Gemälde »Le radeau de la Meduse« (heute im Pariser Louvre zu sehen) heroisch hervorgehoben hatte, ist die dritte Hauptfigur des Oratoriums. In dessen Mittelpunkt jedoch steht die Masse der Opfer, denen sich Henze stets in besonderer Weise verbunden sah.

Théodore Géricault, »Le Radeau de La Méduse« (1819). Quelle: Wikimedia Commons

Die Lebenden und die Toten

Angefangen mit einer personifizierten und im Wasser gespiegelten Nachbildung des Géricault-Bildes, die dem titelgebenden Floß entspricht, führt Charon (beklemmend stringent Idunnu Münch) von einem roten Sea-Watch-Schlauchboot aus durch die folgenden Szenen. Vom Beckenrand her lockt La Mort (ganz in tödlich glänzendem Schwarz, mit betörender Stimmkraft Gloria Rehm) die Opfer einzeln oder gruppenweise in ihre Fänge. Auf dem mehr und mehr maroden Floß der »Vielzuvielen« versucht Jean-Charles (immer wieder kraftvoll aufbegehrend Günter Papendell) die schmalen Vorräte zu rationieren und unter den im Angesicht des Todes zunehmend Verzweifelten einen Hauch von Disziplin durchzusetzen. Lebende und Tote können jedoch voneinander nicht lassen, kommunizieren sogar weiter miteinander, die Lebenden in deutscher, die Toten in italienischer Sprache.

Bezwingend agieren Chorsolisten, Bewegungschor und Kinderkomparserie der Komischen Oper, ergänzt vom Vocalconsort Berlin sowie dem Staats- und Domchor Berlin – für sie geht es immer wieder ins Wasser, schwimmend, watend, treibend, bis sich schließlich nur mehr ein kleines Häuflein auf den Planken hält, das, oh Rettung, späte Rettung!, ganz zum Schluss durch das erwähnte Stahltor in die Tempelhofer Nacht entweicht.

Das Orchester der Komischen Oper bewältigt den zwölftönig beginnenden Kraftakt bravourös, der mal abgründig dissonant, mal ergreifend emotional, dann aber auch percussiv treibend enorm vielfältig angelegt ist, noch dazu hier und da mit Zitaten gespickt; eine große Meister-, eine Henze-Leistung, die Titus Engel mit Akribie und Stringenz umgesetzt hat.

Dass es hier nicht nur um historische Anklage und rückbezogenen Fingerzeig gegen europäische Kolonialgeschichte geht, liegt auf der Hand. Ohne jede Aufdringlichkeit gemahnt das Oratorium heute an die zahllosen Fluchtopfer auf anderen Meeren. Wenn zwischendurch eine heiter tobende Badeorgie abgehalten wird – bevor die »Medusa« strandet, passiert sie die Urlaubsinsel Teneriffa -, mischen sich feuchte Späße konsternierend mit dem täglichen Sterben auf See.

»Das Floß der Medusa« ist von Skandalen umrankt. Die Hamburger Uraufführung von Henzes Oratorium wurde gestört, weil am Dirigentenpult eine rote Fahne hing. Mit solch einem Signal hat der Matrose im Stück die Hilfe herbeiwinken können, die für ihn selbst freilich zu spät kam. Skandalös war (und ist) schon die gesamte Kolonialgeschichte des europäischen Herrentums, nicht nur die französische. Entsetzlich auch die Ignoranz der Befehlshaber gegen das Schicksal des eigenen Fußvolks. Henze hat mit dieser Metapher auf die brutale Menschheitsgeschichte ein stimmiges Stück Zeitkritik hervorgebracht. Ob er für möglich gehalten hätte, dass auch im 21. Jahrhundert noch keine Besserung in Sicht sein würde?

Immerhin könnte das Berliner Opernleben demnächst einigen Auftrieb erfahren. Denn nicht zuletzt dank Sachsens hoffnungslos überforderter Kulturpolitik, die vorrangig touristische Ziele im Blick hat, wechselt Christian Thielemann im kommenden Sommer an die Staatsoper Berlin. Und hat schon durchblicken lassen, dort nicht nur Wagner und Strauss dirigieren zu wollen. Vielleicht gibt es gar eine Renaissance der Moderne auch Unter den Linden?