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„Eine Orgel ist nicht auf 10 Jahre Garantie ausgelegt“

Ralf Jehmlich in seiner Werkstatt (Foto: M.M.)

Ein drohendes Handelsverbot für Fernambukholz, das zum Bau von Streicherbögen verwendet wird, ist gerade abgewendet worden – da droht der Musikwelt schon die nächste Hiobsbotschaft. Die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) hat vorgeschlagen, die Verwendung von Blei im Musikinstrumentenbau durch die EU-Chemikalienverordnung REACH stark einzuschränken. Blei wird im Musikinstrumentenbau seit Jahrhunderten unter anderem für die Herstellung von Orgelpfeifen, bei Blechblasinstrumenten und – für Tastengewichte – auch im Klavierbau benötigt. Martin Morgenstern hat den Orgelbauer Ralf Jehmlich zu dem Thema befragt.

Herr Jehmlich, Sie führen in sechster Generation den weltweit ältesten Orgelbaubetrieb, der immer in Familienhand lag. Der Deutsche Musikrat hat kürzlich Alarm geschlagen, dass Betriebe wie der Ihre durch die geplanten Änderungen in der neuen EU-Chemikalienverordnung akut in ihrer Existenz gefährdet wären. Ist das übertrieben?

Nein, überhaupt nicht. Das Thema Blei ist weiß Gott kein banales, es beschäftigt uns intensiv. Vor rund zehn Jahren gab es bereits eine neue REACH-Verordnung. Damals ging es auch schon darum, dass Blei auf eine Gefährdungsliste gesetzt werden und der Ex- und Import von Blei verhindert werden sollte. Was auf der Industrieseite für mich erst einmal verständlich ist: Handys, Computer, Maschinen – vieles davon landet auf dem Schrott. Da ist Blei dann ein echtes Umweltgift. Das trifft auf den Orgelbau aber nicht zu! Wenn wir Metallpfeifen herstellen, die aus einer Legierung von Zinn und Blei bestehen, werden alle Reste abgeschnitten, sortenrein nach Legierung getrennt und beim nächsten Herstellungsprozess wieder eingeschmolzen. Wenn wir Orgeln restaurieren und das Pfeifenwerk ausgebaut wird, wird bei den alten Pfeifen eine Legierungsanalyse gemacht, das Material wird den neuen Orgelpfeifen wieder beigefügt.

Wie gingen die Neuerungen des Regelwerks damals aus?

Dass die Orgel 2017 zum immateriellen Kulturerbe ernannt worden war, hat uns damals in der ersten REACH-Verordnung geholfen. Die Politiker verstanden: Achtung, hier gibt es schützenswertes Kulturgut. Nach vielen Petitionen bei der EU haben wir Orgelbauer am Ende eine Ausnahmegenehmigung erhalten. Von der so genannten „Restriction of Hazardous Substances“-Richtlinie, die die Verwendung gefährlicher Stoffe regelt, blieben wir ausgenommen – allerdings mit der allgemeinen Auflage, Blei bei unseren Herstellungsprozessen zu vermeiden. Im Orgelbau betreffen diese Auflagen das Metallpfeifenwerk. Das bedeutete: keine Blei- und Zinnlegierungen dürfen in den Abfall gegeben werden; alle Reste landen immer wieder bei uns. Wenn die neue Bleiverordnung wirklich durchkäme, würde der Orgelbau allerdings völlig zum Erliegen kommmen. Sie müssen ja verstehen: Das eine ist der Neubau von Orgeln, aber das viel größere Problem ist die Restaurierung. Hier im Osten, gerade in Dresden, sind bei den alten Silbermannorgeln immer wieder Reparaturarbeiten erforderlich. Wenn wir dort kein Blei mehr einsetzen dürften, würden diese Instrumente verfallen.

Im Bogenbau denkt man seit Jahren über mögliche Alternativen für das geschützte Bogenholz nach und experimentiert mit Karbon und anderen Hölzern. Wären für die Bleilegierungen eventuell ähnliche Innovationen denkbar?

Momentan gibt es im Pfeifenbau keine Alternativen. Das Blei ist nicht nur technologisch erforderlich, sondern klangbestimmend! Deswegen gibt es im Orgelbau verschiedene Legierungen: von Pfeifen mit 88 Prozent Zinn und 12 Prozent Blei bis hin zu sehr bleihaltigen Legierungen, die bis zu 95 Prozent des Metalls enthalten. Wir haben gerade in Recknitz eine Orgel restauriert, von 1708. Die hat hoch bleihaltige Pfeifen mit einem Anteil von 94 Prozent. Die Prospektpfeifen der Orgel waren stark beschädigt und löchrig; so ein Instrument könnte man dann überhaupt nicht mehr restaurieren.

Warum braucht es denn überhaupt den Blei-Anteil in den Pfeifen?

Es ist uns ja grundsätzlich ein Anliegen, möglichst denkmalgerecht zu restaurieren. Wenn der Holzwurm eine Pfeife auf dem Gewissen hat, nehmen wir für die neue Pfeife dieselbe Holzart. Und das Blei bestimmt nun mal den Klangcharakter einer Pfeife! Wenn Sie 58 Töne in einer Manualklaviatur haben, haben alle Pfeifen dieses Registers dieselbe Legierung. Mit einem hohen Zinnanteil klingen sie schärfer. Wenn ich jedoch Blei beimische, klingen die Pfeifen sanfter, grundtöniger. Die Schwere des Materials ist ein Faktor, aber auch die Weichheit des Metalls beeinflusst den Klang maßgeblich. Da gibt es einfach keine Alternative zu Zinn und Blei. Im Ersten Weltkrieg mussten viele Gemeinden die zinn- und bleihaltigen Prospektpfeifen ihrer Orgeln abgeben. 1923 sind dann viele Prospekte mit einem Ersatzmaterial, mit Zink, einem gewalzten Blech, bestückt worden. Das veränderte den Klang. Wenn wir solche Orgeln heutzutage restaurieren, bauen wir die Zinkpfeifen aus und Zinnpfeifen ein. Klanglich macht das einen Riesenunterschied! Der Obertonaufbau ändert sich mit der Legierung, denn: wie sich die Wellen der Luftsäule im Pfeifenkörper bilden, wird neben der Bauform der Pfeife vor allem durch das Material bestimmt.

Ein Blick in die Werkstatt… (Foto: M.M.)

Auch der Blasinstrumentenbau braucht Blei..

Ja, stimmt. Blechblasinstrumente sind aus Messing, aber sie werden mit Weichlot gelötet, das Blei ist sozusagen ein unverzichtbares Arbeitsmittel. Und genauso ist es bei den Kirchen: Bleiglasfenster in ganz Europa bedürfen natürlich auch der Reparatur; die würde es auch treffen. Im Orgelbau hat man verschiedene Ersatzmaterialien ausprobiert. Es gab eine Phase, wo Kunststoffteile eingebaut wurden. Die bittere Erkenntnis folgte später: der Weichmacher diffundierte und die Teile brachen kaputt. Eine Orgel ist nun mal nicht nur auf zehn Jahre Garantie ausgelegt. Es gibt Jehmlich-Orgeln, die zweihundert Jahre alt sind. Da sind Werkstoffe wie Holz, Zinn, Blei oder Leder wichtige Voraussetzung für die Langlebigkeit.

Dennoch, können Sie die Argumente der Chemikalienagentur nachvollziehen? Blei ist nun mal ein giftiges Schwermetall. Es reichert sich im Körper an, die Sauerstoffversorgung wird gestört. Und wenn die Stäube eingeatmet werden, sind sie krebserregend.

Weil wir Orgelbauer keinen Müll produzieren, der auf einer Deponie landet, haben wir für uns im Orgelbau einen eigenen Materialkreislauf geschaffen, so dass ich ausschließen kann, dass wir hier mit unserem Blei die Umwelt belasten. Es finden auch in allen Orgelbaubetrieben Gesundheitsuntersuchungen der Mitarbeiter statt. Gerade auch bei Metallpfeifenbauern wird sehr auf die Blutwerte geachtet. In ganz Deutschland gibt es keinen einzigen Fall, wo erhöhte Bleiwerte im Blut nachweisbar sind. In unserer Fertigung herrschen strenge Vorschriften, was Hygiene anlangt: keine Nahrungsaufnahme im Betrieb, es wird auf Händewaschen geachtet. Wir gehen wirklich sehr bewusst mit dieser Thematik um. Wenn wir Zinn und Blei gießen, liegt der Schmelzpunkt bei ca. 300 Grad Celsius. Das ist nicht wie bei der Verhüttung, wo giftige Dämpfe entstehen.

Was würde es denn für Ihren Orgelbaubetrieb bedeuten, wenn die Nutzung von Blei so eingeschränkt wird, wie das die Europäische Chemikalienagentur plant?

Wir könnten dann nur noch Pfeifen reparieren, die bereits vorhanden sind. Orgeln neu zu bauen, würde mehr als schwierig werden. Die kleinste Einheit unserer Orgeln, sogenannte Truhenpositive, haben nur Holzpfeifen; sie müssen transportabel sein. Die könnten wir natürlich weiterhin bauen. Aber den typischen großen Kirchenorgelklang kriegt man einfach nur mit Metallpfeifen hin. 2021 war die Orgel Musikinstrument des Jahres. Wir hoffen einfach sehr, dass wir auch in der neuen Verordnung eine Ausnahmeregelung bekommen, damit wir dieses Kulturgut aufrechterhalten können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Eine Textfassung des Interviews ist am 22. Februar in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen.