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„Chorsingen stiftet Sinn und Gemeinschaft“

Foto: anna.s.

Michael Käppler, Sie haben kürzlich eine ungewöhnliche Singakademie-Konzertsaison mit unbekannten Komponistennamen und selten gespielten Werktiteln vorgestellt. Sicherlich fragen Sie sich wie alle Konzertdramaturgen momentan: was ist das beste Argument, Dresdner Kulturliebhaber hinter dem Ofen hervor und wieder in die Konzerte zu locken?

Das beste Argument ist, die typischen Konzertroutinen satt zu haben. Ich kann mir in Dresden jeden Dezember zehn Weihnachtsoratorien, zu Ostern drei Matthäuspassionen und diverse Deutsche Requiems anhören. All das ist wunderbare Musik, ohne Frage. Vielleicht habe ich aber auch irgendwann das Gefühl, dass ich neue Impulse brauche. Da ist meine Hoffnung, dass dieser Funke dann bei der Singakademie überspringt. Wir müssen erkennen, dass es abseits der bekannten Pfade in allen Epochen gute Komponisten und Komponistinnen gab. Nach wie vor gilt es da viel zu entdecken. Unser Profil als Singakademie liegt darin, dass wir Dinge machen, die abseits des Mainstreams liegen und die andere Ensembles nicht machen wollen oder können.

Ihre Ernennung zum Künstlerischen Leiter liegt jetzt zwei Jahre zurück und fiel in eine für Chöre sehr herausfordernde Zeit. Sind Sie inzwischen im Choralltag angekommen, haben sich die Dinge in der Post-Klemm-Ära inzwischen eingespielt und normalisiert?

Meine Ernennung fiel im März 2021 ins Coronachaos, meine Zeit bei der Singakademie habe ich mit Digitalproben über Zoom begonnen. Das zog sich über den Zeitraum von zwei Monaten, in denen ich die Leute nur vom Bildschirm her kannte – und natürlich von dem Vorstellungsprocedere…  Es war ein langsames Kennenlernen und Aufeinander-Einstellen, das durch den seltsamen Start zusätzlich erschwert war. Ich bin ein Typ, der bei den Proben die Kommunikation braucht, ich kann mich nicht vor den Bildschirm stellen und da kommt nichts zurück – ich brauche die Reaktion der Sängerinnen und Sänger. Diese Digitalproben haben mich ziemlich fertiggemacht und sie ließen mich jedes mal mit der Frage zurück, ob es den Leuten irgendetwas gebracht hat.

Michael Käppler (Foto: anna.s.)

Gibt Ihnen die Singakademie, in der ja Laien singen, bei den Proben eigentlich Rückmeldung darüber, was diese Laien brauchen, „erziehen“ sie sich ihren Dirigenten sozusagen?

Die Singakademie ist prinzipiell ein sehr selbstbewusster Chor. Es gibt einzelne Sänger, die ihre Vorstellungen sehr präzise artikulieren; auch, was sie nicht gut finden. Das ist aber meistens konstruktiv. Ich stelle indes fest, dass die Erwartungen innerhalb des Chors sehr divergieren. Ein gutes Beispiel ist das Probentempo. Für die einen ist es zu hoch, für andere zu niedrig. Das Beste ist, von seiner Art erst einmal überzeugt zu sein. Es wird nie allen gefallen, und es gilt einen guten Mittelweg zu finden.

Die Singakademie – das sind ja eigentlich fünf Ensembles: der große Chor, der Kammerchor, der Jugendkammerchor, der Kinderchor (der von Maja Selina Seidel geleitet wird) und der Seniorenchor mit seinem Leiter Robert Schad. Wie managen Sie diese große Akademie, und wie suchen Sie das Repertoire für Ihre Chöre aus?

Ich habe einen festen Assistenten, Friedrich Sacher, der bei den Proben auch korrepetiert. Gelegentlich arbeite ich auch mit Studenten zusammen. Und vom Repertoire her? Da denke ich in übergeordneten Themen. Wir haben Jahreszyklen, und die Werkauswahl dafür kommt auf verschiedene Weise zustande. Manchmal stoße ich auf faszinierende Stücke, die in ein Thema gut passen, und manchmal inspirieren Zufallsfunde eben jene Jahresthemen. Ich schreibe mir Listen, das ist wie ein Speicher: wenn mir ein interessantes Werk unterkommt, wandert es auf die Liste. Wenn ich einen groben Plan habe, setze ich mich mit meinen Chorleiterkollegen zusammen und schaue, wir wir das zum Gesamtkonzept für alle Chöre ausformen. So entspinnen sich dann die Programme. Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass ein bestimmtes Thema gerade „dran“ ist und daraus entstehen wieder neue Querverbindungen. Es ist ein lustvoller, aber auch kräftezehrender Prozess, der nicht selten mit Selbstzweifeln endet, ob es wirklich gut genug ist.

Ich nehme an, die Coronakrise war auch eine Singakademie-Krise, was die Mitgliederzahlen anging. Geht es inzwischen wieder aufwärts?

Tatsächlich hatten wir am Jahresanfang eine Welle neuer Interessenten. Insgesamt würde ich von einem Seitwärtstrend sprechen wollen. Manche hatten ja mit dem Ende von Ekkehard Klemms Zeit als Künstlerischer Leiter eine Austrittswelle befürchtet, aber es sind dann nur wenige Leute tatsächlich gegangen. Unser Problem ist eher eine Alterslücke im mittleren Bereich. Wir haben eine Altersgrenze des Großen Chors nach oben – und die kommenden Abgänge in den Seniorenchor zu kompensieren wird schwer werden. Aber wer weiß – vielleicht erlebt das Sinn und Gemeinschaft stiftende Chorsingen ja eine neue Renaissance? Unsere Gesellschaft könnte es gut gebrauchen.

Sie wollen und müssen also stets auch neue Chormitglieder anlocken – wie machen Sie das?

Ja, absolut, wir sind auf Neuzugänge angewiesen. Ich suche da immer nach neuen Wegen. Es ist ja auch nicht so, dass die musikalischen Begabungen seltener werden. Aber das Handwerkliche der Musik, das Notenlesen zum Beispiel, oder wie man sich ein Intervall vorstellt, das bekommen immer weniger von zuhause oder in der Schule mit. Ich habe das an meinen eigenen Kindern gesehen: der Musikunterricht war zu Coronazeiten eingestellt, an vielen Grundschulen gibt es gar keine Chöre mehr. Wenn wir da fitte Leute haben wollen, müssen wir die musikalische Ausbildung zu einem gewissen Teil selbst in die Hand nehmen, um das Level zu halten. Was einzelne Begabungen angeht, bin ich bei der Singakademie übrigens immer wieder erstaunt. Ja, es sind Laien – aber sie schultern bei uns schwerste Chormusik. Was mich bekümmert, ist eine wachsende Geringschätzung unserer Gesangskultur insgesamt. Wenn an Hochschulen diskutiert wird, die Eignungsprüfungen abzuschaffen, weil sie den Fokus auf die „westliche“ Musiktradition legen und damit Personen mit anderem Background diskriminieren – so gerade in Baden-Württemberg geschehen – da fehlt mir das Verständnis. Ist es eine Zumutung, ein Volkslied singen zu müssen?

Lassen Sie uns abschließend noch einmal auf das Programm des kommenden Konzerts kommen, das sich Wunderkindern widmet. Der Begriff ist ja nicht ganz problemfrei – wenn ich etwa an das frühkindliche Trietzen denke, das übermotivierte Eltern ihrem Nachwuchs manchmal angedeihen lassen.

Diese dunkle Seite des Wunderkind-Daseins hat unser Programmheftautor Gerhard Poppe sehr schön thematisiert. Er schrieb etwa: ein Wunderkind, das ist die Rückkehr eines religiösen Elements durch die Hintertür. Als Publikum finde ich keinen anderen Weg zu erklären, dass ein junger Mensch so außergewöhnliche Fähigkeiten hat. Die viele Arbeit, das Üben, der Zwang, diese Elemente sehen wir am Ende ja nicht. Bei Wolfgang Amadeus Mozart etwa und seiner „Waisenhausmesse“, die wir aufführen werden, sehe ich das ganz realistisch. Vorsichtig formuliert, ist das eine „Gemeinschaftskomposition“ mit seinem Vater Leopold. Und auch das ganze Monetäre: Kinder quasi als Arbeitstiere vorzuführen, um bei den Schönen und Reichen gut anzukommen, das ist ein hochproblematisches Kapitel des Wunderkind-Daseins. Wie das Wolferl das selber empfunden hat, darüber kann man spekulieren. Sein Sozialverhalten scheint ja schon speziell gewesen zu sein. Aber klar, in der heutigen Zeit ist das Thema problematisch zu sehen und vor allem der Trend, musikalische Talente immer früher zu entdecken, sie immer schneller in die kommerzielle Musikwelt zu werfen, als würde einem die Zeit weglaufen.

Die Konzertsaison der Singakademie Dresden unter dem Thema »Mit Kinderaugen« startet am 23. April in der Annenkirche Dresden mit geballter jugendlicher Verve: Im Konzert »Wunderkinder« wird Musik des 12-jährigen W. A. Mozart, der heute weitgehend vergessenen römischen Komponistin Maria Rosa Coccia und ein Violinkonzert des Prinzen Johann Ernst IV. aufgeführt. Ausführende sind Anna Dribas (Sopran), Johanna Bohrig (Alt), Samir Bouadjadja (Tenor) und Constantin Haufe (Bass), das Jugendbarockorchester »Bachs Erben« und der (Jugend)kammerchor der Singakademie.

Sonntag, 23. April 2023, 17 Uhr – Annenkirche Dresden
Eintritt: 20 € | Erm.: 15 € | U25: 10 € | Familienkarte: 2E + 2K 50 € | 1E + 2K 30 €

Karten: www.singakademie-dresden.dewww.reservix.de (zzgl. Vorverkaufsgebühr) und an allen bekannten VVK-Kassen. Abendkasse eine Stunde vor Konzertbeginn.