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Musikalische Auffrischungs-Impfung gefällig?

Quelle: Bjarke Ingels Group

„Zum Frühstück nach Prag“ wollte uns die Dresdner FDP in den neunziger Jahren verleiten. Jetzt setzt die Hauptstadt Tschechiens auf eine neue Initiative, die eher auf die Abendstunden abzielt: In dem boomenden Stadtteil Holešovice soll eine neue Philharmonie entstehen, für die Einwohner der Stadt – und ihre Touristen.

Sieben Jahre lang hat Zdeněk Hřib an der Prager Karlsuniversität Medizin studiert, war danach einige Jahre lang am Staatlichen Pharmazeutischen Institut angestellt und saß im Aufsichtsrat der staatlichen Krankenversicherung. 2017 beschloss der Mediziner, sich für seine Studienstadt politisch stärker zu engagieren – und anderthalb Jahre, nachdem er Mitglied der tschechischen Piratenpartei wurde, haben ihn die Prager 2018 zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Seitdem geht die Koalition des smarten Jungpolitikers, der alltäglich mit dem E-Scooter über Prager Pflasterstraßen zur Arbeit hoppelt, mit mehreren zukunftsweisenden Stadtplanungs-Projekten in die Offensive: eine neue Metrolinie ist in Planung; Brücken, Straßen und Plätze werden in Rekordtempo erneuert. 2019 wurden mehr als 350.000 neue Bäume im Stadtgebiet gepflanzt, die Lehrergehälter erhöht, ökologischer Landbau gefördert. Der jüngste PR-Coup des Piratenbürgermeisters, der es in die internationale Tagespresse schaffte: Prag bekommt eine neue Philharmonie!

Bisher ein ernüchterndes Pflaster… Die Gegend rund um die U-Bahn-Station Vltasvska (Foto: M.M.)

Dafür wurde erst einmal das Volk befragt. Insbesondere die Anwohner des im Norden gelegenen ehemaligen Industrie-Viertels Holešovice sollten Auskunft geben: wo liegen vor Ort die größten Herausforderungen? Welche öffentlichen Einrichtungen wären notwendig? Wie sollte der Uferbereich zur Moldau hin gestaltet werden? Mit den geäußerten Wünschen (Freizeit- und Erholungsflächen für Yoga & Co., Restaurants und Cafés) ging die Stadt in die internationale Ausschreibung. In den folgenden Monaten gingen in Prag die Entwürfe internationaler Architektenbüros ein. Das slowenische Architektenduo Vasa J. Perović und Matija Bevk schlugen einen wuchtigen leuchtenden Speicher vor. Der Däne Jakob Christensen (Jaja Architekten) entwarf eine grünen Häuser- und Bäumedschungel mit einem Open-air-Amphitheater. Das in Barcelona ansässige Duo Barozzi/Veiga zeichnete eine weiße Konzerthauswolke; der Japaner Sou Fujimoto eine kühn ausschwingende, zum Flussufer hin vollverglaste Mall. Zwei bescheidene Kokons des Pragers Petr Hájek, eine futuristische Gebäude-Flunder Jean Nouvels und eine klassizistisch strenge Säulenhalle David Chipperfields mussten sich am Ende dem Siegerentwurf des Büros Bjarke Ingels Group (BIG) geschlagen geben.

Die dänischen Architekten haben für Holešovice einen spektakulären Kultur-Leitbau entworfen. Die neue Moldau-Philharmonie unweit der U-Bahn-Station Vltavska, deren Baukosten auf 250 Millionen Euro geschätzt werden, hat eine mehrstöckige transparente Glasfassade mit weit auskragenden, von schlanken Säulen getragenen Etagendächern, die sich wie Zeltplanen biegen und, übereinander geschichtet, einen Weinberg-Saal mit massiven, bis unter die Decke geschichteten Terrassen überdachen. Dieser Saal wird akustisch vom in Tokio beheimateten Büro „Nagata Acoustics“ und seinem Präsidenten Yasuhisa Toyota geplant, der bekanntliche die Akustiken der Konzertsäle in der Elbphilharmonie, der Isarphilharmonie im Gasteig, der Walt Disney Concert Hall Los Angeles, der beiden Mariinski-Säle, der Pariser Philharmonie oder den Pierre-Boulez-Saal in der Barenboim-Said-Akademie verantwortet hat. Allerbester Akustik-Adel also, der weltweit keinen Vergleich scheuen muss. In diesem Saal werden sowohl die Tschechische Philharmonie (Chefdirigent seit 2018: Semjon Bychkov), die bisher im Rudolfinum beheimatet ist, als auch das 1934 gegründete und momentan im Prager Gemeindehaus residierende Sinfonische Orchester der Hauptstadt Prag (FOK) ihre gemeinsame Heimstatt finden.

Quelle: Bjarke Ingels Group

Ausgehend von der neuen Moldau-Philharmonie soll der inspirierende Gründergeist stadtplanerisch nach Norden durch ganz Holešovice schwappen und den Stadtteil, der 2020 vom britischen „Guardian“ europaweit unter die zehn coolsten Stadtteile gewählt wurde, noch attraktiver machen. Rund um den nicht weit weg gelegenen Messepalast aus den zwanziger Jahren, der seit einigen Jahren die moderne und die zeitgenössische Sammlung der Prager Nationalgalerie beherbergt, soll das Kulturleben mit kleinen Galerien, Cafés, Läden und Boutique-Hotels weiter aufblühen. Das abenteuerlustige Dresdner Konzertpublikum reise dann am besten nicht mit dem Auto, sondern entspannt und ohne Umsteigen mit dem Eurocity-Zug an (wer hat nicht das melodische „Příští zastávka: Praha Holešovice“ im Ohr!). Ein festlicher Konzertbesuch, Dinner, noch ein Absacker an der Hotelbar, endlich ein Sonntags-„Frühstück in Prag“ und die entspannte Rückreise in die sächsische Landeshauptstadt: das klingt nach einem wunderbaren Plan. Hoffen wir nur, dass das Gebäude planmäßig bis 2032 fertiggestellt werden kann.

Die Recherche wurde von der Tschechischen Zentrale für Tourismus (CzechTourism) freundlich unterstützt.

Eine Textfassung des Artikels ist am 3. März 2023 in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.

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