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Eine neue Handschrift

Foto: M.M.

Kein halbes Jahr ist der neue Kreuzkantor im Amt – und schon wird der Kreuzchor durch Frauenstimmen verstärkt! Dieser Empörung vorzubeugen, bedurfte es einer kurzen Vorrede, bevor das »Weihnachtsoratorium« am Freitag ja eigentlich die Wiedereroberung des normalen Konzertlebens hatte einläuten sollen. Aber: kaum etwas ist schon wieder normal. Gerade erst hat der Chor seine Deutschlandtournee abbrechen müssen, und auch die drei Kantatenaufführungen standen eines dramatisch hohen Krankenstands wegen auf der Kippe. So verstärken also ehemalige Kruzianer und einige Frauenstimmen aus dem Vocal Concert und dem 1995 von Martin Lehmann gegründeten Kammerchor Cantamus Dresden den Kreuzchor für die kommenden Tage. Ein umsichtiger Schritt, der die Grundversorgung mit dem musikalischen Lebensmittel »Weihnachtsoratorium« absichern hilft.

Ein weiterer Schritt: der Chor sang gestern insgesamt zurückhaltend, als hätte der neue Kantor vorher die Ansage gemacht: schont euch, wir wollen bis Weihnachten und hoffentlich bis zum Ende der winterlichen Virus-Saison durchhalten! Trotzdem war die neue Handschrift des Kantors sofort herauszuhören: der Chor klingt im Sopran heller, artikuliert deutlicher, die Musik funktioniert wieder als Klangrede – was auch bedeutet, dass die Tempi variabler und insgesamt lebhafter geworden sind.

Nicht nur deutlich hörbar, sondern auch sichtbar sind die Vorstellungen von Martin Lehmann im Orchester geworden. Die Philharmonie ist nun anders aufgestellt, die Violinen agieren links und rechts des Dirigenten, die Bratschen sind neben die ersten Geigen gerückt, hinter ihnen agieren Pauke und Trompeten. Continuo-Orgel und Cembalo sind aus der Mitte, in der nun ein Lautenist (Martin Steuber) positioniert ist, an den Rand gerückt. Der freundlich-warme, von den tieferen Registern gemütlich grundierte Klangfluss ist einem kurzweiligen, teilweise fast nervösen Dialogisieren gewichen, das Lehmann als aufmerksamer Mediator einsteuert. Manche Instrumentengruppen, manche Instrumentalsolisten haben das schon besser verinnerlicht als andere, was am Freitag einige Male zu kleinen Tempo-Irritationen führte.

Die vier Solisten brachten sich auf ganz unterschiedliche Weise in diesen musikalischen Redefluss ein. Die Altistin Henriette Gödde füllte das Riesenkirchenschiff mit Wärme; Hanna Herfurtners Sopran schwebte darüber hinweg. Am natürlichsten und ergreifendsten erzählte der Bass Tobias Berndt; der irische Tenor Robin Tritschler blieb neben ihm bei aller sorgfältigen musikalischen Durcharbeitung zu distanziert.