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Ich is a Christmas Tree

Alle Fotos: Ludwig Olah

1769 baute der österreichisch-ungarische Staatsbeamte und Erfinder Wolfgang von Kempelen seinen berühmten Schachautomaten, der scheinbar eigenständig Züge auf einem Schachbrett ausführte und auf die Züge eines menschlichen Mitspielers sinnvoll reagieren konnte. Der Schachautomat löste im 18. Jahrhundert, als man sich selbst die Verdauung als einen mechanischen Vorgang vorstellte, Erstaunen und Bewunderung beim Publikum aus. Alles als Maschine zu verstehen, hat durchaus einen beruhigenden Effekt. Zum einen erscheint dadurch das Leben berechenbar und vorhersehbar. Zum anderen gewann der Einzelne dadurch an Autonomie. Keine höhere Macht bestimmt über mein logisches Denken: es ist vielmehr eine Rechenmaschine, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert. Kempelens Schachautomat schlug mächtige europäische Herrscher im Schachspiel!

Descartes hatte bereits ein Jahrhundert zuvor einen Subjektbegriff begründet, der auf diese Freiheit des Denkens zielt. Als cartesisches Subjekt, das sich im eigenen Verstand erkennt, untersteht der Mensch keinem Anderen mehr, sondern ist ganz für sich. Das moderne Subjekt konstituiert sich seitdem aus einem eigenen Bewusstsein, wobei wir uns nicht sicher sind, wem und was wir ein solches Bewusstsein zusprechen sollen. Hat Kempelens Schachautomat ein Bewusstsein? Hat die Katze meines Nachbarn ein Bewusstsein? Hat ein Neugeborenes, noch nicht der Sprache mächtig, ein Bewusstsein?

Die Antworten auf diese Fragen verraten meist mehr über uns als über den Gegenstand unserer Überlegungen. Das Vertrackte am Bewusstsein ist, dass wir uns nur unseres eigenen Bewusstseins sicher sein können — und dies auch nur bis zum zweiten oder dritten Glas Rotwein. Wir schreiben jedoch Dingen, mit denen wir interagieren, gern ein Bewusstsein zu. Nachbars Katze genauso wie unserem Computer, wenn er mal wieder ‚spinnt’. Und so verkündet das Programmheft der Semperoper vollmundig eine Oper ganz neuer Art, in der Künstliche Intelligenz selbst „singt“ und „träumt“. Die KI hätte damit ein Bewusstsein – und das Publikum würde Zeuge einer ganz neuen Art von Sein und Kunst.

Eir Inderhaug (Reales Ich/Virtuelles Ich)

Aber der Reihe nach! An diesem Samstag wurde die Dresdner Opernspielzeit mit einer Uraufführung eröffnet. In »chasing waterfalls« versucht sich ein „Ich“, gesungen von der norwegischen Sopranistin Eir Inderhaug, morgens in den Computer einzuloggen. Das System erkennt die Identität des „Ichs“ allerdings nicht an und verweigert den Zugang. Erst nach mehreren Versuchen gelingt die Identifikation. Das Publikum wird daraufhin gemeinsam mit dem „Abbild des Ichs“ in das „Innere der Artificial Intelligence gesogen“. Dort begegnet es den virtuellen „Ausfaltungen der eigenen Persönlichkeit“, die sich gegen das „Ich“ verbünden. In diesem Moment greift aber, deus ex machina ich hör’ dir trapsen, die AI in das Geschehen ein und offenbart die „Künstlichkeit der einprogrammierten Figuren“. So liest man es im Programmheft.

Abgesehen von der initialen Szene, die filmisch realisiert wird, sieht man von dieser Handlung auf der Bühne: nichts. Das liegt einerseits an dem Libretto von Christiane Neudecker, das keine Aktion oder Interaktion vorantreibt, sondern nur Fetzen eines subjekttheoretischen Sprechs unverdaut aneinander montiert: „Ich bin du und viele.“ Zu diesen ausgehöhlten Phrasen gesellt sich gelegentlich eine Lexik, die in ihrer Umständlichkeit an Hofmannsthal denken lässt, ohne je eine eigene poetisch-sprachliche Qualität zu gewinnen. Zum anderen liegt die Absenz einer erkennbaren Handlung an der Unfähigkeit des Regisseurs Sven Sören Beyer, uns etwas mit Hilfe der Darsteller zu erzählen. Im Bühnenbild, das er gemeinsam mit Pedro Richter entworfen hat, steigen die Sänger auf einer Treppe auf und ab, bilden statische Tableaus und werden von den Bühnen füllenden Projektionen überlagert.

Dabei beginnt der Abend durchaus vielversprechend. Blaue Scheinwerferstrahlen kreuzen sich über dem Parkett, schwenken Richtung Bühne wie bei einem Stadion-Konzert, und auf einer vor dem Bühnenraum gespannten Gaze beginnen übergroße Synapsen wild zu flackern. Der von kling klang klong erzeugte Raumklang schwirrt von allen Seiten auf einen zu, mischt sich mit den Instrumentalisten im Graben und verspricht ein synästhetisches Kunsterlebnis. Die elektronischen Klänge erschöpfen sich aber bald in endloser Monotonie und überdecken durch ihre Lautstärke die rhythmischen Finessen der instrumentalen Komposition des Hongkonger Komponisten Angus Lee. Es bleibt fraglich, warum da überhaupt neun Instrumentalisten im Graben sitzen müssen.

Diese Instrumentalsolisten firmieren unter dem Label „Sächsische Staatskapelle“. Es finden sich allerdings nur drei (!) Kapellmusiker neben sechs Gästen. Klangästhetisch herrscht hier ein gewollter Eklektizismus. Die von Angus Lee komponierten Gesangsstimmen fallen in eine Traditionslinie mit Wagnerschem Sprechgesang und einer Stimmbehandlung, wie man sie von Bernd Alois Zimmermann kennt. Die elektronischen Klänge, die kling klang klong verantwortet, entstammen einer populären Musikästhetik, sind geräuschhaft, kratzen, klopfen, hallen. Da gibt es keinen Beat, die Klänge erinnern eher an technische Störgeräusche mit all ihrer Eigenlogik. Flüstert da jemand hinter einem, oder ist es doch eher ein Knacken in der Telefonleitung? In den Instrumentalparts bleibt sich Angus Lee treu und schreibt atonale Musik mit polyrhythmischen Reibungen, in denen beispielsweise 5 gegen 6 gespielt werden, zitiert aber auch mit Chuzpe aus der Walküre. Die KI singt hingegen in einem tonalen Stil, der irgendwo zwischen englischer Sakralmusik und Folk zu liegen scheint. 

Über all dem schwebt auf der Bühne eine übermächtige Lichtskulptur von zweifelhaftem ästhetischen Mehrwert. Oft erinnern deren Lichtspiele an eine kommerzielle Weihnachtsdekoration. Das ist technisch sicherlich brillant, bleibt aber eine oberflächliche Spielerei. Die Bilder dieser Produktion werden als Clickbait wunderbar auf Tik Tok und Instagram funktionieren, für das Musiktheater oder die Fragen, die hier verhandelt werden sollten, sind sie jedoch kein Gewinn. Sie bleiben wie die großen philosophischen Fragen nach dem Selbst und unserer Identität in Zeiten algorithmischer Kontrolle ein leeres Versprechen.


Wieder – und dann schon letztmalig – am 8. und 11. September.

Extra-Veranstaltung: „Künstliche Intelligenz oder: Wo und wer spielt in Zukunft die Musik?“
(11.9., 11 Uhr, kostenfreier Eintritt mit Ticket)