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Kampf durch Kultur

Foto: Dmytro Larin

Bitter sind die Hintergründe, die das Kyiv Symphony Orchestra dieser Tage auf eine kleine Tournee durch sieben deutsche Konzerthäuser führen, und lähmend der Gedanke, wie wenig Kunst und Kultur gegen einen Angriffskrieg auszurichten vermögen. Sich dieser Machtlosigkeit zu ergeben, war für die ukrainischen Musikerinnen und Musiker aber keine Option: „Wir können am besten kämpfen, indem wir spielen“, sagte eine Bratscherin des Orchesters, Iulia Nieporozhnieva, letzte Woche.

Insofern war das Auftaktkonzert am Montag in Dresden als völkerverbindendes Ausrufezeichen gedacht. Aus dem fast ausverkauften Kulturpalast – viele hundert der inzwischen siebentausend Ukraine-Flüchtlinge, die in den letzten Wochen in Dresden angekommen sind, waren anwesend – wurde die Musik auf den Dresdner Schlossplatz übertragen und von der „Deutschen Welle“ (in Moskau ist der Sender bekanntlich inzwischen als ‚ausländischer Agent‘ eingestuft) weltweit an über neuntausend weitere Zuschauer über Youtube live gestreamt.

Das Programm war geschickt zusammengestellt. Mit einer vor einigen Jahren im Vatikan wiederentdeckten Sinfonie des Haydn-Zeitgenossen Maxim Berezovsky (1745-1777) wurde zunächst die gefühlte Nähe der Ukraine an das europäische Musikleben der damaligen Zeit demonstriert. Für Ernest Chaussons „Poème“ für Violine und Orchester, quasi ein kleines, viertelstündiges Violinkonzert, trat dann die in Kiew und Berlin ausgebildete Geigerin Diana Tishchenko vors Orchester, gab dem Werk mit schnellem Strich und beherztem Zugriff eine eher nüchterne, kühle Note. Wie als Zugabe für das begeistert applaudierende Publikum folgte die schlichte „Melodie“ von Myroslav Skoryk (1938-2020), in die der ukrainische Heimatschmerz quasi einkomponiert ist. Hier war das vor vierzig Jahren gegründete Orchester, das heute mehrheitlich aus Musikerinnen und Musikern Anfang, Mitte zwanzig besteht und in Trägerschaft der Landeshauptstadt organisiert ist, endlich in seinem Element. Hier schlägt eben hörbar das musikalische Herz des Ensembles, das mit der „Melodie“ in den letzten Jahren die wichtigen Nationalfeiertage, etwa das 25jährige Jubiläum der ukrainischen Verfassung oder den 30. Jahrestag der Unabhängigkeit untermalt hat. Luigi Gaggero, seit 2018 Chefdirigent, ließ die Musikerinnen und Musiker den leidenschaftlichen, schmerzvoll süßen Ton auskosten.

Die fundamentale Entdeckung des Abends folgte in der zweiten, emotional durch Publikumsrufe („Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“) aufgeladenen Konzerthälfte. Vom ersten, atonalen Hornruf bis zum tumultösen Schluss begeistert die Dritte Sinfonie des wohl wichtigsten ukrainischen Komponisten, Borys Ljatoschynskyj (1894-1968). Im Westen ist er vielleicht am ehesten als Lehrer von Walentyn Sylwestrow bekannt. Was für ein mutiges, wutiges, kraftvolles Werk, das mit einer immensen klanglichen Vielfalt aufwartet, die an viele Vorbilder von Richard Strauss bis Alexander Skrjabin erinnert. Beschämt müssen wir uns eingestehen, von diesem Komponisten, der ähnlich Schostakowitsch zwischen die Mühlen der sowjetischen Kulturpolitik geriet, sich nach Formalismusvorwürfen staatsnah gab – die Dritte Sinfonie ist dem 25jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution gewidmet – und viel für die Schublade schrieb, bisher viel zu wenig gehört zu haben. Sein „Slawisches Konzert für Klavier und Orchester“, seine vierte und fünfte Sinfonie, vor allem aber seine Kammermusik sind für viele Westler völliges Neuland, das der begeisterten Entdeckung harrt. Eine Empfehlung für Neugierige: die knapp zweistündige Sendung „Interpretationen: Boris Ljatoschinskis Dritte Sinfonie“ (Regie: Volker Tarnow), die in der Mediathek von Deutschlandfunk Kultur seit Ende März abrufbar ist und ein dichtes Netzwerk von Klängen, Komponisten-Biografien und spannenden Geschichten strickt.
Patriotischer Ausklang des Abends: unter dem Jubel des Publikums erklang die ukrainische Nationalhymne. Für große Teile des Dresdner Publikums dürfte die Melodie Mychajlo Werbyzkyjs neu gewesen sein; das ukrainische Publikum dagegen, Hand aufs Herz gelegt, sang die Worte leise mit: „Noch ist die Ukraine nicht gestorben. Leib und Seele werden wir für unsere Freiheit opfern. Wir werden niemandem erlauben, in unserem Heimatland zu herrschen. Der Ruhm der Ukraine wird sich unter den Völkern verbreiten.“

26.4. Gewandhaus zu Leipzig
27.4. Philharmonie Berlin
28.4. Kurhaus Wiesbaden
29.4. Konzerthaus Freiburg
30.4. Kuppelsaal Hannover
1.5. Elbphilharmonie Hamburg

Eine Textfassung des Artikels ist in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.