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„Und das Gnu, ja, das sieht zu, hu!“

Der »Vetter aus Dingsda« – das war vor hundert Jahren ein kommerziell durchgeplanter Riesenhit: schmelzende Träume, schmissige Tänze, eine Bäumchen-wechsle-dich-Liebeskomödie à la „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken. Küss mich, und alles ist gut“ (alle Fotos: Pawel Sosnowski)

Nein, diese woken Berliner. Diese Schneeflöckchen! Die halten Tschaikowskis „Chinesischen Tanz“ und den „Orientalischen Tanz“ im »Nussknacker« doch für blanken Rassismus – gleich nimmt die Staatsballett-Direktorin Christiane Theobald das Stück angstbibbernd vom Spielplan. Tjahaa, da ist das Dresdner Publikum aus anderem Holz geschnitzt! Denen kann man einen ironisch überspitzten Exotismusmix buchstäblich auf die Operettenbühne kippen („Ich entpacke meinen Koffer aus Batavia und entnehme ihm: Giraffenkostüme. Papageienblumen. Vietnamesische Reishüte. Geschnitzte Hocker. Schrumpfköpfe – oder waren das Musikinstrumente? Einen Assegai…“). Man muss als Regisseur nur gleichzeitig klarmachen, dass man sich der ganzen Problematik bewusst ist und das Bühnenbild (und auch das Libretto) dementsprechend aufladen. Also: ein paar Filmausschnitte zeigen, in denen people of color vorkommen. Eine der handelnden Personen könnte en passant einen kleinen Vortrag über das Thema einstreuen und die reiche, gerade volljährig gewordene Protagonistin überlegen, ob sie für Flüchtlinge spendet – oder lieber für die CDU (nein-nein, sofort Grimasse ziehen, bitte). Plakate von Völkerschauen und Menschenzoos kommen gut. Und warum nicht auch gleich noch das Thema des Herero-Völkermords aufmachen und damit die Brücke von Niederländisch-Indien (eben jenes Dingsda-Land in »Der Vetter aus Dingsda«) nach Deutschsüdwest-Afrika schlagen? Letzter Tipp, liebe Berliner: Im Bühnenbild sollte sich die Thematik wenn möglich auch wiederfinden. Vielleicht ein stilisiertes Bild einer Müllkippe mit armen, verschleierten Müllsammlern? Böte sich doch an. Stichwort Überflussgesellschaft, Ausbeutung etcetera.

Ha, von diesem Vetter Roderich hätten wir gern mehr gehört; obzwar der „zweite Fremde“, Nikolaus Nitzsche, als deus ex machina erst kurz vor Toresschluss im Heli den Bühnenhimmel durchbricht, um das Finale der Operette einzuleiten, macht der Ex-Kruzianer an diesem Abend stimmlich und spielerisch den allerbesten Eindruck.

Wenn ich sarkastisch klinge, ist dieser Sarkasmus doch mit einer leisen Ratlosigkeit grundiert. Ist Jan Neumanns Lesart des »Vetter aus Dingsda« (entwickelt gemeinsam mit der Dramaturgin Valeska Stern) sozusagen die Umsetzung von Kathrin Kondaurows Idee von einer Operette mit „Leichtigkeit und Tiefgang“? In einer Revue wie »Hier und jetzt und himmelblau« ist ja tatsächlich beides zu haben. Gaskammer, Stasi, Weinen und Lachen und ein kleines bisschen Liebe, das war von Neumann und Kondaurow mit Witz und Geschmack berückend und berührend abgestimmt gewesen: eine Revue eben wie eine festliche Schiffsparade auf der Themse, in der das Königinnen-Auge schweifen darf zwischen fetten Dampfern und grazilen Segelbooten. Beide Aspekte aber – Leichtigkeit und Tiefgang – in einem einzigen Boot zu vereinen, bringt die Physik an ihre Grenzen. Warum? Ein Wort nur: Trägheit.

Herr Landwirt, Ihre Gurke wächst! Ingeborg Schöpf und vor allem Markus Liske sind als Figuren grotesk überzeichnet – muss denn Humor immer in so brachialen Dosen über die Rampe gekippt werden?

Klar, in einer Operette sind die physikalischen Gesetze aufgehoben. Hier dürfen auch mal riesige Biergläser durchs Traumschloss fliegen (Bühne, wie schon in der »Hier und Jetzt«-Revue und »Blondinen bevorzugt«: Cary Gayler) – und der Mond (der laut Rideamus‘ Libretto ausschließlich nachts zu sehen ist) als Discokugel glitzern. Aber die Brüche drischt der Regisseur hier mit der Zaunslatte in das einhundert Jahre alte Werk. Die handelnde Person eines Lustspiels soweit ins Lächerliche zu überspitzen, wie es etwa im »Vetter« mit dem liebestechnisch lange Zeit glücklosen Pointenlieferaten Egon von Wildenhagen (Riccardo Romeo), mit banalem Tortenwurf-Humor oder Onkel Josse (Markus Liske) durchexerziert ist – diese fette Brillenschlange hampelt sich immer verzweifelter und schriller durch den Abend –, das hat eine ähnlich grässliche Wirkung wie eine geschmacklos übertriebene Schönheits-OP. Wenn die Bediensteten (Dag Hornschild/Christian Berger) die Klamotten des „Ersten Fremden“ (Timo Schabel) nur mit zugehaltenen Nasen transportieren dürfen und die Bühnen-Träumereien der Freundinnen Julia (Amelie Müller) und Hannchen (Christina Maria Fercher) nicht über Schulmädchen-Niveau erheben, fällt der Schritt in die subtile Kolonialismuskritik dem Publikum nicht eben leicht.

So bleibt am Ende dieses Premierenabends, an dem das Orchester unter Johannes Pell solide aufspielt (und sich für manche heißblütigen Sänger etwas zu viel Zeit lässt), Timo Schabel nach einem schmelzend-weichen „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ im dritten Akt leider ein bisschen strapaziert klingt und die modernen Tänze, für die der »Vetter« vor hundert Jahren den wildesten Applaus bekam, von der Choreographie (Modjgan Hashemian) eher verschämt im Werkablauf untergebracht werden, die ernsthafte Frage, warum dieses Stück im Jahr 2022 auf die Bühne der Staatsoperette Dresden gehört?

Nächste Aufführungen: 5., 6., 24., 25. Februar; 12., 13., 17., 18. März; 14., 16. April