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Er spielt mit seinem Astralleib Klavier

Foto: M.M.

Es ist eine amüsante Vorstellung: da träte also ein Stadtfestbesucher aus der langen Schlange am Dynamo-Dresden-Marktstand in den Kulturpalast ein, sieht: in einer Viertelstunde beginnt ein Konzert im Großen Saal, also: Ticket gekauft (im Rang ists billig), Luftballon und Schirmmütze im Garderobenschrank verstaut – und los!

Was ist da am Sonntagvormittag zu erleben? Zeitgenössische (oder fast noch zeitgenössische) Klavierstücke, die sich mit Gedichten von Huchel, Bachmann, Rühmkorf („Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier“), Enzensberger oder Rosenlöcher abwechseln. Kurze Charakterstücke zuerst (Friedrich Goldmann: »Vier Klavierstücke«), die das Instrument klanglich-mechanisch weit ausreizen. Ein Ersthörer wird hier kaum Strukturen erkennen können. Alles scheint zersplittert, Takt und Tonalität sind aufgehoben.

Steffen Schleiermacher, den ich, glaube ich, zuletzt im blutroten Saal des Hygienemuseums gehört habe, teilt sich für diesen Vormittag die große Bühne vor schütter besetztem Saal mit dem Schauspieler Erik Brünner, der sich über die zwei kurzweiligen Konzertstunden so langsam von den fünfziger Jahren (Paul Celan: »Ich hörte sagen«) über die sechziger, siebziger und schließlich achtziger Jahre zu den »Montagsnächten« von Angela Krauss vorarbeitet. Die sind 1989 geschrieben und markieren den zeitlichen Schlusspunkt des Konzerts, das sich klug ausgewogen Klaviermusik und Literatur aus Ost- und Westdeutschland widmet. Glücklicherweise moderiert – denn ohne Erklärungen, ohne Komponistennamen wäre es wohl nur Kennern möglich gewesen, die Musik nach hüben oder drüben zu verorten (bei der Lyrik gelingt das logischerweise eher).

Wer aber jetzt vorschlüge, da gleich einmal ein entsprechendes Rate-Konzert aufzusetzen – wie das Spiel, bei dem man entscheiden soll, ob das Gemälde ein zeitgenössisches Werk eines Kunsthochschulabsolventen oder eines Elefanten aus dem Tierpark Hannover ist –, verkennt die eigentliche Funktion der Kompositionen: nämlich nicht zuletzt, in einem durch Komponisten- und Schriftstellerverband (Ost) oder banal gesellschaftliche Erwartungshaltung (West) quasi gleichgeschalteten Kulturbetrieb für ausgewählte Follower (oder nur für die Schublade? Siehe die Abendkonzerte mit Werken von Christfried Schmidt) eine eigene Binnenwelt mit individuellen, vielleicht nur hier gültigen Ausdrucksformen zu schaffen. Insofern haben diese Stücke allein zeithistorisch ihre Berechtigung im Konzertsaal. Aber es fehlt ihnen nun der Bühnenhintergrund, der Gegenpol. Man findet heute, dreißig Jahre nach dem Untergang des einen Landesteils und zwei Komponisten-Generationen nach dem jungen Stockhausen und dem jungen Rihm, kaum noch den Schlüssel zu ihnen. Das wäre vielleicht im Kontrast zu Werken eines Louis Fürnberg, Ottmar Gerster oder Ernst Hermann Meyer besser zu verstehen gewesen. Von Kurt Barthel zu Kurt Bartsch sozusagen.

Schleiermachers Zwischenmoderationen klangen teilweise ernüchtert, fast zynisch, ob der Ignoranz der vor allem westdeutschen Besucher seiner Konzerte in den letzten dreißig Jahren. Aber auch die Musikkritiker bekamen eins übergebraten; hatte doch einer von ihnen in sein »Klavierstück 1990« die Leipziger Revolution hineingehört. Ich finde diese Deutung gar nicht soo dämlich: hört man doch, wie sich hier etwas nach ermüdenden Widerholungen, nach auf Verschleiß gefahrenen Routine-Abläufen, allmählich immer weiter kaputtspielt. Den „Anfang von kommenden Anfängen“ beschwor Angela Krauss in ihrem Wendegedicht.

Ja, was war das Konzert? Eine Nabelschau zurückliegender, oft gescheiterter Anfangsversuche? Sie machte traurig-melancholisch. Wohl kaum der von den Komponisten und Poeten angestrebte Zustand.