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„Altersbedingter Zustand. Gebräunt, stockfleckig“

Fotos: Auktionshaus Kaupp, abgerufen am 15. Juni 2020 (www.kaupp.de)

In den ersten Adventstagen 2019, so schilderte es der Präsident der Gottfried-Silbermann-Gesellschaft, Domkantor Albrecht Koch, habe ihm ein Freund per E-Mail einen Link zu einem Auktionshaus geschickt. Eingenliefert aus einer süddeutschen Privatsammlung, stand dort unter Lot 3249 und 3250 (Mindestgebot: insgesamt 154.000 EUR) das berühmte »Silbermann-Archiv« zur Aktion. Fünf Handschriftenbände mit zahlreichen Briefen und fliegenden Blättern und die in rotes Leder gebundenen „Specificationen“, ein teilweise in Geheimschrift verfasster Zusatzband mit technischen und kaufmännischen Angaben über den Orgelbau: Albrecht Kochs Augen dürften geleuchtet haben! Aber die Gottfried-Silbermann-Gesellschaft hätte mitnichten die nötigen Mittel zum Mitsteigern gehabt, winkte er ab. So ging die Nachricht im Adventsstress unter. Um so glücklicher war der Organist zu erfahren, dass die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden mit der Schützenhilfe weiterer Stiftungen den Ankauf tatsächlich bewerkstelligen konnte. In Rekordzeit wurde die Ernst von Siemens Kunststiftung ins Boot geholt (die für ihre Beteiligung den Stiftungszweck etwas „dehnen“ musste), die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien angerufen, die Kulturstiftung der Länder aktiviert und das Auktionshaus kontaktiert. Und dann ging am 7. Dezember 2019 alles ganz schnell: der Zuschlag ging für 165.000 Euro vor Steuern und Gebühren nach Dresden.

Der SLUB ist damit die Erwerbung eines wahren Schatzes gelungen. Johann Andreas Silbermann hat in den fünf sehr sauber geschriebenen Bänden quasi das gesamte Wissen der Silbermänner geordnet niedergelegt: Band 1 befasst sich mit den 126 „Elsassischen Orgeln“, die nicht von der Familie Silbermann gebaut wurden. Band 2 beschreibt 123 weitere, nicht Silbermannsche Orgeln aus allen Teilen Deutschlands: aus Eisenach, Gotha, Halle, Leipzig, von der Festung Königstein (!), aus Oybin, Görlitz, Berlin, Halberstadt, Magdeburg und vielen weiteren Orten. Band 3 enthält biografische Skizzen zu 182 Orgelbauern, unter anderem aus der „Schule Silbermann“ – etwa zu dem Eisenacher Orgelbauer Sebastian Seitz, einem früheren Schreinergesell bei Andreas Silbermann. Band 4 beschreibt en detail 35 Silbermann-Orgeln, das für Bau und Pflege nötige Personal und viele weitere wirtschaftliche Faktoren, was diesen Abschnitt, so beschrieb es Prof. Dr. Barbara Wiermann heute bei der Pressekonferenz zum Erwerb der Handschriften, zu einer wichtigen kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Quelle des 18. Jahrhunderts macht. Und schließlich folgt Band 5, in dem Johann Andreas Silbermann die 31 „eigenen“ Orgeln handwerklich beschreibt, Details zur Einrichtung und zur Intonation der Instrumente aufführt.

Während der übrige Nachlass Silbermanns, den die Erben 1784 der Stadt Straßburg überlassen hatten, im Jahr 1870 durch den Brand der Stadtbibliothek zerstört wurde, sind die Bände und Blätter des «Silbermann-Archivs» in Privatbesitz erhalten geblieben. Ihre Provenienz ist bis heute lückenlos dokumentiert. Da sie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Paris bzw. Versailles befanden, wird das Kompendium heute als «Pariser Silbermann-Archiv» bezeichnet.
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Obwohl durchgängig in Privatbesitz, war das «Silbermann-Archiv» für die Wissenschaft immer zugänglich. So hatte der berühmte Pariser Organist und Komponist Charles-Marie Widor (1845 – 1937) Einsicht in das Archiv. Auch im Hinblick auf die geplante Restaurierung der Orgel des Straßburger Münsters im 20. Jahrhundert wurde es herangezogen. 1994 erschien eine vollständige Transkription aller fünf Bände einschließlich der fliegenden Blätter, herausgegeben von Marc Schaefer.
In den Schriften des «Archivs» lernt man einerseits detailliert die Arbeit Silbermanns und die vielen Orgeln kennen, die er selbst besichtigt hat, sowie die Arbeitsweise anderer Orgelbauer. Andererseits geben sie gewissermaßen en passant viele, tiefe Einblicke in den Alltag der Zeit und insbesondere des Orgelbaus. Mit Sorgfalt und in teils humorvoller Weise schildert er u.a. ganz alltägliche Erlebnisse und Begegnungen. So beklagt er sich beispielsweise über die mangelnde Bereitschaft der Eigentümer, seine kostbaren Orgeln regelmäßig stimmen zu lassen: «Solange die Witterungen bald kalt und bald warm oder trucken und feuchte seyn», schreibt er im Mai 1780 über die Kirche Jung-St. Peter in Straßburg, «solange es Mucken [Fliegen] giebet welche in denen Orgeln vieles zum Verstimmen helffen, und solange sich in denen Kirchen der Staub in die Orgeln setzen kan, solange wird man sich gefallen laßen müßen wan man anders gestimbte Orgeln haben will, Unkosten damit zu haben.».

Sogar als Sitten- und Spiegelbild der Lebensumstände des 18. Jahrhunderts lassen sich die Aufzeichnungen lesen. Denn er schildert in seinem Text, der sich in vielen Passagen lesen lässt wie ein Tagebuch, auch Details und Anekdoten im direkten Umfeld des Orgelbaus. So etwa anlässlich der bis heute erhaltenen und als «Monument historique» klassifizierten Orgel zu Marmoutier (Orgel zu Maures Münster [sic]), die sein Vater Andreas 1710 fertig gestellt hatte: «Es war zur Herbstzeit als die Orgel bald fertig wurde, da kamen die Bauren welche Güld ins Closter brachten. Nach dem Abladen wurde ihnen ein Trunck Wein gegeben. Gemelder Gesell arbeitete nicht in der Kirch, sondern in einem Hauß welches im Hoff stund. Er sollte eben etwas machen worauf mein Vatter in der Kirch wartete. Anstatt aber zu arbeiten, so machte er sich unter die Bauren, und discurirte und truncke mit ihnen».
(Quelle: Auktionskatalog Kaupp)

Ab heute ist das digitalisierte Silbermannsche Familienwissen als „Mscr.Dresd.App.3165“ unter www.slubdd.de/silbermannarchiv erreichbar und zum Schmökern freigegeben.