Wenn das Kindswohl in Gefahr ist, kann kein Aufschrei laut genug sein. Aber worum geht es denen, die derzeit am lautesten schreien an der Staatlichen Ballettschule in Berlin? Geht es hier wirklich in erster Linie um das Wohl der Schülerinnen und Schüler? Oder werden auf dem Rücken der angeblich zu Schützenden persönliche Intrigen und kulturpolitische Machtspiele betrieben?
Es ist ganz sicher eine der härtesten Ausbildungen überhaupt, die Kinder und Jugendliche durchlaufen, wenn sie Tänzerin oder Tänzer werden wollen. Ihr Weg führt sie durch Höhen und Tiefen, sie durchleben Momente der Freude und des Schmerzes. Verletzungen bleiben nicht aus, körperliche und auch seelische, tiefste Niedergeschlagenheit, Selbstzweifel, erstes Konkurrenzdenken… Zudem die Wirren der Pubertät, oftmals weit weg von den Familien in Internaten.
In biografischen Filmen wie »Billy Elliot – I Will Dance«, als Musical mit der Musik von Elton eine der erfolgreichsten Produktionen in der Geschichte des Londoner West End, auch am New Yorker Broadway, jüngst auch in dem Film »Yuli« über den Weg des Kubanischen Tänzers Carlos Acosta an die Weltspitze werden solche Geschichten erzählt. Da gehen die großen Träume in Erfüllung. Die Härten, die Abstürze, die Enttäuschungen sind nicht vergessen, aber sie finden Akzeptanz: ohne sie wären die Träume nicht in Erfüllung gegangen.
In der bemerkenswerten Langzeitdokumentation „Adrian will tanzen“ für das ZDF hat Manuel Fenn acht Jahre lang den Weg Adrians durch die Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule in Berlin begleitet. Adrians Wunsch, Balletttänzer zu werden, erfüllt sich am Ende nicht. Durch eine Verletzung ist die für den Beruf des Tänzers unbedingt notwendige hohe Belastbarkeit des gesamten Körpers nicht mehr voll gegeben. Für den enttäuschten Adrian bedeutet das aber nicht den existentiellen Absturz. Er findet, auch das zeigt der Film nachvollziehbar und glaubhaft, seine Bestimmung als Lehrer und Trainer. So sind die Jahre an der Ballettschule keine verlorenen Jahre.
Nicht alle schaffen es
Das ist aber nicht immer so. Wenn Träume zerplatzen, wenn die Ausbildung nicht zu Ende geführt werden kann, oder wenn doch, die Voraussetzungen für eine klassische Ballettkarriere nicht gegeben sind. Denn darüber gibt es doch keinen Zweifel: eine solche Ausbildung birgt das Risiko, sie eben nicht beenden zu können. Gerade hier sind spezielle Methoden und die Konzepte gefragt, die Kontexte weiterer beruflicher Entwicklung eröffnen, wenn diese eben nicht auf die Bretter führen können, die dem jungen Tänzer die Welt bedeuten.
Es steht natürlich außer Frage, dass in einer Ballettausbildung bei allen nötigen Ansprüchen vor allem spezielle pädagogische Fähigkeiten gefragt sind, Sensibilität und Empathie – gerade im Umgang mit den Auszubildenden in schwierigen Phasen. Und es ist natürlich die Aufgabe der Leitung, möglichen Verfehlungen oder auch unangemessenen Handlungen, körperlich oder verbal, nachzugehen und dafür zu sorgen, dass diese abgestellt werden. Um solche Prozesse einleiten zu können, muss ein Klima der Offenheit herrschen. Das ist an der Staatlichen Ballettschule Berlin seit ungefähr einem Jahr nicht mehr der Fall. Was im April vor einem Jahr begann, hat sich zu einer Schlammschlacht entwickelt. Anonyme Beschuldigungen und Verdächtigungen gibt es, bei denen Schülerinnen und Schüler, um deren Wohl es doch eigentlich gehen sollte, für Grabenkämpfe zwischen Mitgliedern des Lehrkörpers und der Schulleitung benutzt wurden.
Auf einmal ist alles ganz anders
Alles beginnt im April 2019. Eine Beratungslehrerin will in der Schulkonferenz einen Brief von Schülerinnen und Schülern vorlesen, der an die Schulleitung gerichtet ist – die von ihm allerdings keine Kenntnis hat. Der Brief, in dem es vor allem Fragen der Ernährung und der Physiotherapie geht, wird daher an jenem Tag nicht öffentlich. Die Lehrerin hält ihn dann noch mehrere Monate zurück. Erst auf Druck des Senats erhält die Leitung den Brief in einer beglaubigten Abschrift. Sie zieht Konsequenzen. Eine neue Physiotherapeutin setzt neue Maßstäbe. Das Fach Ernährungsberatung wird ab der zehnten Klasse eingeführt.
Aber es kehrt keine Ruhe ein. Die Journalistin Marion Heinrich, seit 2014 ehrenamtlich im Bereich Öffentlichkeitsarbeit der Staatlichen Ballettschule tätig, zeichnet mitverantwortlich für eine Broschüre über das 2017 neu gegründete Landesjugendballett der Staatlichen Ballettschule in Berlin. Kurz vorher veröffentlicht sie auch ein Interview mit dem Direktor der Ballettschule Ralf Stabel. Kritische Fragen, vor allem in Hinblick auf mögliche Mehrbelastungen der jungen Tänzerinnen und Tänzer, um die es später im Wesentlichen auch bei den Anschuldigungen gegen Stabel und den künstlerischen Leiter der Ballettschule gehen wird, sucht man hier noch vergeblich.
THE CONTEMPORARIES – IM HIER UND JETZT from Theater Osnabrueck on Vimeo.
Später aber wird Marion Heinrich die Bühnenauftritte von „Deutschlands jüngster Kompanie“ als zu anstrengend kritisieren. In der von ihr redaktionell mitverantworteten Broschüre anlässlich der ersten Präsentation des Programms »The Contemporaries – im Hier und Jetzt (Volume 2)« vom 17. Mai 2017 in der Berliner Staatsoper liest sich das noch ganz anders. „So lag es nahe, den Mitgliedern, das heißt Schülerinnen und Schülern, noch mehr Möglichkeiten zu bieten, aufzutreten und noch vielfältigere Auftrittserfahrungen zu sammeln. Denn nur, wer auf der Bühne tanzen gelernt hat, kann wirklich am Ende einer Ausbildung oder eines Studiums eine Bühnen-Tänzerin bzw. ein Bühnentänzer sein.“
Das sah damals auch noch Berlins Senatorin Sandra Scheers von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie so, die sich in der genannten Broschüre auch gerne inmitten der jungen Mitglieder dieser Compagnie als „Kulturbotschafter Berlins“ gemeinsam mit Gregor Seyffert und Ralf Stabel zeigt.
Kurz danach, im Sommer 2019, ist alles ganz anders. Die Journalistin startet gemeinsam mit einer Moderatorin beim Berliner Spreekanal eine anonyme Aktion gegen die Leitung der Staatlichen Ballettschule, mit dem Ziel, diese abzusetzen. Im November des Jahres gibt es ein Forderungsschreiben einer selbsternannten „Betriebsgruppe“, in dem es um die Gewährleistung der Fürsorgepflicht geht. Da diese Forderung recht allgemein bleibt, gibt es Widerspruch aus dem Kollegium der Ballettschule.
Am 8. Januar 2020 reicht Marion Heinrich, inzwischen nicht mehr für die Schule tätig, beim Berliner Senat ein regelrechtes Anklagedossier mit anonymisierten Zeugenaussagen ein. Diese richten sich vor allem gegen nicht angemessene Unterrichtsmethoden, gegen zeitliche Überbelastungen und mangelnde Wahrnehmung der Verantwortung seitens der Schulleitung. Das Image der Schule, vor allem ihrer Leitung, wird radikal in Frage gestellt. Bereits einen Tag später wird an der Schule eine Gesamtkonferenz einberufen. Weitere sollen folgen, auf Nachfrage unter Einbeziehung der Schülerschaft und der gesprächsbereiten Eltern.
Aber dazu kommt es nicht mehr. Eine Recherche des Rundfunks Berlin Brandenburg vom 23. Januar dieses Jahres vermittelt den Eindruck, dass an dieser Berliner Ausbildungsstätte junge Menschen und Kinder vorsätzlich drangsaliert, gequält, überbelastet und entwürdigt werden. Anonyme Stimmen berichten, dass es so gut wie keine Möglichkeiten gebe, Erfahrungen wie „harter Drill, Bodyshaming, Magersucht“ zu benennen und dagegen vorzugehen. Schuld daran sei einzig die Leitung der Schule: vom autoritären Führungsstil der Direktoren Seyffert und Stabel ist die Rede. Um deren Absetzung müsse es gehen. In dieser Sendung meldet sich auch eine ehemalige Lehrerin der Staatlichen Ballettschule zu Wort. Sie hatte ihren Dienst auf eigenen Wunsch beendet, engagiert sich jetzt als Mitglied der CDU in der Bezirksverwaltung von Berlin-Weißensee. Was sie sagt, klingt besorgniserregend. Sie spricht davon, dass Kinder „krank oder verletzt getanzt haben“, dass es „definitiv mehr Verletzungen als früher, mehr physiotherapeutische Behandlungen“, gebe. Konkrete Zahlen nennt sie nicht. Auch im Training sei es hart zugegangen, heißt es in der Reportage.
In einer Reportage für das Magazin DER SPIEGEL war ein Besuch in der Staatlichen Ballettschule schon 2015 Anlass gewesen, über „Leiden und Hoffen im Ballettinternat“ zu berichten, darüber, wie „Träume platzen, Karrieren beginnen: Wer seine Jugend an einer der besten Ballettschulen der Welt verbringt, muss leidensfähig sein – und ein Ziel haben.“ In dieser Reportage ging es um genau jene Themen, die seit Januar dieses Jahres wieder hochkochen. Ausgerechnet die Trainerin Katja Will, selbst ehemalige Schülerin der Schule, hat in der Reportage nicht viel mehr zu sagen als: dass das nun eben so sei. Dass sie wisse, die Ausbildung sei hart, dass es danach noch härter werde. „Wir kriegen zwar die meisten Schüler irgendwo unter“, sagte sie, „aber gut sein reicht nicht, sie müssen sehr gut sein.“
Mit dieser Härte, die nötig ist, um sehr gut zu sein, hat Katja Will Erfahrung. In einer Reportage der Berliner Morgenpost vom 12. Juni 2010 beschrieb die Autorin auch, was sie beobachtete, wie sich Katja Will, die sich derzeit so vehement für das Wohl der Auszubildenden einsetzt, im Unterricht verhielt:
„Hier ziehen, nein, nicht neigen“, korrigierte sie hart die Haltung eine Schülerin. Die Lehrerin [Katja Will] biegt ihre Schulter nach hinten. Die Schülerin bebt vor Anstrengung. „Nicht zittern!“, befiehlt die Lehrerin: „Das Gesicht locker lassen, die Mundwinkel nach oben!“ Auch die anderen Mädchen hat sie im Blick. „Po rein und strecken!“, herrscht sie ihre Schülerinnen an. „Hier ist nicht Entenhausen, hier ist Berlin, die Hauptstadt!“ Die Mädchen bewahren Haltung, verziehen keine Miene. Eines von ihnen lässt sich das ausgestreckte Bein bis ans Ohr drücken, den Fuß um 90 Grad nach außen drehen. / Katja Will, die selbst 1995 an der Staatlichen Ballettschule Berlin den Abschluss gemacht und als Tänzerin gearbeitet hat, fasst die Mädchen bewusst so unsanft an. „Kuschelpädagogik nützt den Kindern nichts“, sagt sie. „Der Beruf ist knochenhart, die Konkurrenz riesig. Man muss mit Frustrationen umgehen lernen.“
Offensichtlich hat Will unter der nun von ihr angefeindeten Direktion wohl doch noch gelernt, dass auch im Ballettunterricht der Ton die Musik macht. Und: für einige der Lehrkräfte geht es offensichtlich auch darum, die eigene Haut zu retten. Denn von wem ist sie denn ausgegangen, die körperliche Gewalt im Training, auf die der Bericht des rbb24 verweist, wenn nicht auch von jenen, die hier Anklage erheben? Immerhin sollen zwei Drittel des Kollegiums hinter dem Antrag stehen. Da bleiben ja nicht so viele übrig, gegen die sich die kritischen Stimmen richten könnten. Nun ist es aber nicht so ganz einfach, Klärung zu schaffen. Der Kommission, die im Januar dieses Jahres seitens der Berliner Senatsverwaltung eingesetzt wurde, liegen keine konkreten Anzeigen vor. Nur anonyme Hinweise, Pseudonyme, Kunstnamen.
Trotzdem, einen Monat später erfolgt die Freistellung von Gregor Seyffert und Ralf Stabel. Hausverbot. Ihre Türschilder werden abmontiert. Die Senatorin Scheers ist dermaßen unter Druck geraten, dass sie sich der noch immer vornehmlich anonymen Flut der An- und Beschuldigungen beugt. Sie distanziert sich sogar von einem eigenen Mitarbeiter, der die Freistellungen überbrachte, es aber für angemessen hielt, sich bei den Freigestellten auch für ihre Arbeit zu bedanken. Eine Klärung der Vorwürfe gibt es nicht. Die beiden Stellen werden neu ausgeschrieben.
In dieser ganzen aufgeheizten Diskussion wird von einigen Medien der Eindruck erweckt, es gäbe so gut wie keine positiven Rückmeldungen von Schülerinnen, von Schülern oder deren Eltern, von Absolventinnen und Absolventen. Immerhin: in einem Beitrag des Berliner Tagesspiegels vom 7. März wird anhand von Aussagen und Dokumenten klargestellt, dass es durchaus geteilte Meinungen gäbe, vor allem auch „viel Lob für die Ausbildung“. Dazu wird auch Franziska Mölle befragt, die Produktionsdramaturgin des Landesjugendballetts. Dank ihrer Arbeit könnte man sich auf eine geradezu archivarisch gesammelte Fülle von Dokumenten zu den Vorwürfen beziehen. Immerhin gibt es nennenswerte Aussagen, die ein positives Bild der Schule vermitteln: Schüler, Eltern, Absolventen, Personen, die an der Schule tätig sind. Sie liegen dem Tagesspiegel vor.
Mölle betont ausdrücklich, es gehe nicht darum, alle Vorwürfe für nichtig zu erklären. „Natürlich hoffe ich, dass durch die Untersuchungen konkrete Missstände aufgeklärt werden, damit die Schule mit ihren außergewöhnlichen Schülern wieder in die Zukunft blicken kann.“ Allerdings wünscht sie auch, dass sich bei der vom Bildungssenat eingerichteten Clearingstelle nicht nur diejenigen melden, die Beschwerden vorzubringen haben. Nach ihrer Erfahrung sähen ja oft diejenigen, die zufrieden seien, keinen Grund, etwas zu sagen.
Dazu kommt: für die Journalistin Birgit Walter steckt das ausschlaggebende Dossier der anonymen Gruppe, welches zur Suspendierung der langjährigen Leiter der Schule führte, „voller Verleumdungen“. Die Autorin der Berliner Zeitung vermisst die Verantwortung der Berliner Bildungsverwaltung. Sie spricht bisher als erste davon, dass es durchaus Meldungen der Schulleitung zu Problemen mit einzelnen Lehrenden gegeben habe, fragt aber zugleich, ob denn die Schulaufsicht diesen Meldungen überhaupt nachgegangen sei. Und hätte die Senatorin die „schaurigen Dossier-Vorwürfe“ nicht sofort aufklären müssen, statt fast sechs Wochen verstreichen zu lassen, um dann erst auf massiven Druck zu handeln? Die beschuldigten Leiter hätte sie doch, zumindest um der Glaubwürdigkeit ihrer Postion im Senat gerecht zu werden, anhören müssen! Für Birgit Walter bedeutet dies: „Sie lässt die Spitzenkräfte fallen, wohl um sich selbst aus der Schusslinie der Kritik zu nehmen.“
Am Wochenende nun heißt es im Berliner Tagesspiegel: „Der Zwischenbericht zu den Vorwürfen gegen die Berliner Ballettschule liegt vor – und zeigt auf, wer den hohen Preis für die Reputation der Schule in der Tanzwelt zahlt.“ Immerhin, für die Zeitung steht das „Versöhnliche“ des Zwischenberichtes, der am gestrigen Montag in der Schule vorgestellt wurde und demnächst veröffentlicht werden soll, am Anfang: „Für die Expertenkommission hat sich der Eindruck ergeben, dass es bei aller Kritik an Fehlentwicklungen ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten gibt, die Schule mit ihren besonderen Angeboten im Bereich der Ballett- und Artistikausbildung zu erhalten.“
Russendrill und Verschwendung von Steuergeldern
Das war ja durchaus nicht so ganz sicher im Kontext der letzten Entscheidungen der Berliner Kulturexperten bei den Stellenbesetzungen angesichts gewünschter Neuausrichtungen etwa an der Volksbühne und zuletzt eklatant beim Staatsballett. Bei der Ballettschule handelt es sich zwar um eine Bildungseinrichtung – die untersteht der Bildungssenatorin. Aber so ganz kann man ja wohl eine Ballettschule nicht aus dem kulturellen und vor allem aus dem kulturpolitischen Kontext herauslösen.
Und da horchte man schon auf, wenn der Journalist Torsten Mandalka am 31. März dieses Jahres in einem Kommentar zu den Problemen bemerkte, dass in dieser Schule vor allem das Primat der Pädagogik Einzug halten müsse. „Im Zweifel muss das Leistungsprinzip, das bisher der brachialen Bolschoi-Ballett-Tradition folgte, dahinter zurücktreten.“ Mandalka fährt fort, dass die Gesamtausrichtung der Schule neu justiert werden werden müsse: „Weg von einer Fokussierung auf den sehr schmalen und deswegen besonders harten Markt für Balletttänzer und Artisten hin zu einer Schule für künstlerischen Tanz und Bewegung mit einem sehr viel breiteren Spektrum.“ Da macht es sich so öffentlichkeitswirksam wie vielleicht etwas zu populistisch auch noch gut darauf hinzuweisen, dass diese Einrichtung den Steuerzahler pro Jahr 7,5 Millionen Euro koste.
Aber was ist mit der angeblichen „brachialen Bolschoi-Ballett-Tradition“ gemeint? In Berlin bildet die Vermittlung der klassischen Tanztechnik nach Agrippina Jakowlewna Waganowa die Grundlage der Ausbildung in klassischen Techniken. Die Waganova-Methode ist an anderen staatlichen und privaten Ballettschulen in Deutschland ebenso verbindlich wie in ganz Europa und in Nordamerika. Sie gilt bis heute als eine der besten Grundlagen in der Vermittlung klassischer Tanztechnik, in deren Weiterführung zeitgenössische Ballett- und Tanzstile überhaupt erst möglich sind. Das stellen die Berliner unter Beweis, wenn sie Kreationen so bedeutender Choreografen der Gegenwart wie Marco Goecke, Wayne McGregor oder Mauro de Candia nicht nur tanzen, sondern auch individuell interpretieren.
Der so oft ins Feld geführte Vergleich mit dem Hochleistungssport wird nicht zuletzt durch die Aufführungen des 2017 gegründeten Landesjugendballetts ad absurdum geführt. Längst geht es nicht mehr um akrobatische Hochspungleistungen oder Pirouettenweltmeisterschaften: es geht um zeitgenössisches Ballett, indem sich die unverzichtbaren Techniken des Tanzes mit den jeweils individuellen Facetten der Ausstrahlung junger Tänzerinnen und Tänzer verbinden. Plötzlich nun ist durch die Auftritte eben jenes Landesjungendballetts, welche in erster Linie der „Reputation der Schule im professionellen und internationalen Ballettbetrieb“ dienen, vor allem die Frage nach der Sicherung des Kindeswohls auf dem Plan.
Nun geht man natürlich davon aus, dass in einer Clearingstelle und in einer Expertenkommission Fachkräfte arbeiten, für die das ganz sicher spezielle Terrain einer international anerkannten und erfolgreichen Ballettausbildung kein unbekanntes Neuland ist. Fachkräfte in Sachen Ballett oder auch Tanz sucht man in dieser Expertenkommission nach dem Rücktritt der ehemaligen Schulleiterin von ihrer Funktion als Kommissions-Vorsitzende indes vergeblich. Sonst hätte man sicherlich bedacht, wie wichtig gerade im Hinblick auf die berufliche Zukunft der Schülerinnen und Schüler die Erfahrungen öffentlicher Aufführungen sind, zu denen natürlich auch die Mitwirkung in den Aufführungen des Berliner Staatsballetts zählen. Und die finden nun mal abends statt. Immerhin wird noch bemerkt, dass es eben nicht allen Schülern vergönnt ist, diese Ausbildung abzuschließen, was „Abschulungen“ zu Folge habe. Um diese auszugleichen, müsse ständig internationaler „Nachschub“ herangeholt werden. So ergibt sich aus dieser „Globalisierung“ für die Kommission die Frage, „inwieweit die Ausbildung von international ausgewählten Schülern zu Spitzenballetttänzern zur Aufgabe des Berliner Schulwesens gehört.“ Da verschlägt es einem schon die Sprache. Eine deutsche Schule hat deutsche Tänzer auszubilden, oder wie?
Die Expertenkommission arbeitet weiter, ein Abschlussbericht ist für den Herbst angekündigt. Und da, so heißt es im gut informierten Tagesspiegel jetzt schon, müsse geklärt werden, „ob die Entwicklung der Schule zu einem wichtigen Teil der internationalen Ballettwelt und ihre Ausrichtung auf künstlerische Spitzenleistungen gewollt ist oder sich nur aus den Interessen der Schulleitung erklärt“. Dann dürfte ja die Lesart von Torsten Mandalka doch noch nicht so ganz vom Tisch der Experten sein. Tanz und Bewegung, das reicht doch. Ballett? Um Gottes Willen. Das ist doch leistungsorientierte Spitzenkunst. Das brauchen wir nicht mehr. Jedenfalls nicht in Berlin.
Titelfoto des Artikels: Yan Revazov