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Drei Gabentischempfehlungen

Während der Chefredakteur von „Musik in Dresden“ seine Kolumnen und Programmhefttexte derzeit bei 29 Grad Celsius und Meerblick schreibt, geht es hierzulande unaufhaltsam auf die Weihnachtsfeierlichkeiten zu. Michael Ernst hat drei Empfehlungen, was man den Lieben last minute unter den Weihnachtsbaum legen könnte.

Sie ist unentwegt unterwegs, ihr Engagement gilt der Neuen Musik, also dem wirklich Neuen in der Musik. Die in Dresden lebende Sängerin Sarah Maria Sun geht dafür auf’s Ganze, wagt alles und kann alles. Ein stimmliches Phänomen. Wie schafft sie es nur, neben dem Gesang auch noch Bücher zu schreiben und die sogar eigenhändig zu illustrieren? Es muss an der innigen Liebe zur Kunst liegen. Mit der füttert sie auch »Wums das Wimsel«. Ein winzig kleines Wesen, das die zeichnende Sängerin extra vergrößert hat, denn sonst könnte man es gar nicht erkennen. Dabei ist Wums wahnsinnig verfressen! Keine Ahnung, warum er bei seinem gewaltigen Appetit nicht dick und fett wird. Eine Frostbeule ist er allerdings auch. Deswegen sucht Wums im Winter immer nach einer warmen Bleibe. Bei Sarah Maria Sun findet das Wimsel, Überraschung!, in die Wärme der Semperoper und will dort eigentlich einen zünftigen Winterschlaf halten. »Dabei will es nicht gestört werden«, heißt es im Text, der von lauter fliegenden Noten umrankt ist. Krach im Opernhaus! Wums will den »Störenfried« suchen und findet ganz viele davon. Manche heftig gestikulierend mit weit offenen Mündern, andere mit irgendwelchen Gerätschaften in Händen, aus denen ebenfalls Krach kommt. Aber was heißt hier Krach? Irgendwie klingt das doch alles ganz spannend. Wums ist schon bald fasziniert, verliebt sich ins Theater und kommt den ganzen Winter gar nicht zum Schlafen. Sarah Maria Sun ist mal wieder ein wunderschönes Märchen gelungen, das für kleine und große Musikverliebte durchaus ansteckend wirken kann.

Eine andere Geschichte, die zur Jahreszeit passt, ist die »Winterreise« von Franz Schubert. Zu Herzen gehende Melancholie, in Noten gegossene Tristesse einer gescheiterten Liebe. Und zugleich ein so anregender Liedzyklus, dass er Mut machen kann, Empathie weckt und beim Zuhören neben Ergriffenheit durchaus auch Trost spendet. Was hat Schuberts »Winterreise« nicht alles schon aushalten müssen! Komponiert wurde der Zyklus auf Texte von Wilhelm Müller für Singstimme und Klavier. Interpretiert worden ist er von Tenören ebenso wie von Vertretern anderer Stimmfächer, Instrumentalversionen gibt es und Orchesterfassungen. Manchmal wurde sich an dieser Reise auch kräftig verhoben, am schlimmsten wohl im völlig gestrandeten Versuch eines Gisbert zu Knyphausen, der sowohl vokal als auch in seiner banalisierten Gestaltung daran gescheitert ist. Wie aber klingt die »Winterreise« mit Chor und Akkordeon? Bariton Tobias Berndt und der Leipziger Gewandhauschor sind das Wagnis eingegangen, diese Tour mit den Akkordeonisten Heidi und Uwe Steger anzugehen. Chorleiter Gregor Meyer ist diese faszinierende Bearbeitung gelungen, indem er den Klavierpart für die Akkordeons aufgeteilt hat und durch die Vielstimmigkeit des Chores einen ganz eigenen Klangzauber entstehen lässt. Tobias Berndt überzeugt mit sonorem Ausdruck; wer dieser Reise folgt, wird ganz tief berührt.

Emotionen anderer Art verströmt die CD »Resilience« der Pianistin Yulianna Avdeeva, die auch in Dresden und insbesondere bei den Schostakowitsch-Tagen Gohrisch eine gern gesehene Künstlerin ist. Während des Lockdowns hat sie Gelegenheit gehabt, am Flügel von Władysław Szpilman sowohl Kompositionen dieses durch Roman Polańskis Film »Der Pianist« weltbekannt gewordenen Musikers als auch von Dmitri Schostakowitsch, Mieczysław Weinberg und Sergej Prokofiev einzuspielen. Sie musiziert mit zauberhafter Brillanz, einem kraftvoll differenzierten Anschlag sowie mit inniger Hingabe an diese Raritäten der Klavierliteratur. Sowohl Szpilmans Mazurka und seine Suite »Das Leben der Maschinen« zeugen ebenso von schwierigen Zeiten wie Schostakowitschs 1. Klaviersonate aus dem Jahr 1926 und Weinbergs 4., die unter dem Eindruck unmenschlicher Kriegserfahrungen entstand. Auch Prokofjews Klaviersonate Nr. 8, die zu den sogenannten »Kriegssonaten« zählt, lässt in Abgründe blicken, ohne jedoch beim Hören zu entmutigen. Im Gegenteil, die Kraft dieser Musik in Avdeevas vorzüglicher Umsetzung kann stärken! Schließlich ist Resilienz auch in unseren heutigen Tagen gefragt.