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Medea mal Drei

Weltmeisterschaften des Originalklangs

Mit den drei Operninszenierungen der Berliner Barocktage verhält es sich wie mit Tolstois unglücklichen Familien: jede ist auf ihre ganz eigene Art unglücklich. Das vermag den musikalischen Luxus und Kairos eines solchen Festivals jedoch nicht zu schmälern. Es braucht schon ein Haus wie die Lindenoper, um mit zwei Repertoire-Inszenierungen, einer Neuproduktion und einer Vielzahl von Konzerten und Recitals ein solches Buffet barocker Preziosen einzudecken. Steigen wir also in den Zug, schauen kurz hinüber zu Zwinger, Frauen- und Hofkirche und fühlen uns im kalten Berliner Novemberwetter wie das strahlende Kind im Süßwarengeschäft. Wohin greifen bei all diesem Angebot?

Meike Droste und die Akademie für Alte Musik Berlin in Bendas Melodram „Medea“ in der konzertanten Aufführung im Boulez-Saal, 20. November 2023, Foto: Stefan Maria Rother
Ana Maria Labin (Aspasia), Paul-Antoine Bénos-Djian (Farnace), Adriana Bignagni-Lesca-(Arbate) in „Mitridate“ von Wolfgang Amadeus Mozart, Inszenierung: Satoshi Miyagi, Foto: Bernd Uhlig

Da gibt es mit Charpentier und Cherubini zwei Bearbeitungen des Medea-Mythos, komplettiert von einer dritten Medea, dem für die deutsche Musikgeschichte wichtigem Melodram aus der Feder Georg Bendas — immerhin 1775 im Leipziger Theater am Ranstädter Tor uraufgeführt. In einem Brief an seinen Vater aus dem Jahr 1778 nannte es kein Geringerer als Mozart “wahrhaft fürtrefflich”. Es trifft sich also ebenso fürtrefflich, dass sich zu diesen drei Medeen Mozarts frühe Opera seria “Mitridate, re di Ponto” gesellt, die er 1770 für Mailand komponierte. Im zarten Alter von 14 Jahren war es zwar sein erster Beitrag zur höchsten Gattung, allerdings bereits sein fünftes Werk für die Bühne. Greifen wir also zu bei dieser überquellenden Bonbonniere!

Nun leistet sich die Lindenoper nicht eines, nicht zwei, sondern gleich drei Spitzenensemble der Alten Musik: die Akademie für Alte Musik Berlin residiert in der Hauptstadt, aus dem Breisgau ist das Freiburger Barockorchester angereist und vom Fuße der französischen Alpen sind die in Grenoble beheimateten Musiciens du Louvre herbeigeeilt. Die Franzosen spielen mit ihrem musikalischem Leiter Marc Minkowski einen göttlichen Mozart, lassen jedes da capo, von denen es genrebedingt sehr viele gibt, zu einem Ereignis werden und betten die Sänger und Sängerinnen in einen glasklar silberen Honigklang. Sie stellen damit die Berliner Akademie vom Vorabend in den Schatten, die mit der nachrevolutionären Orchesterpartitur von Cherubinis opéra comique “Médée” aus dem Jahr 1797 hörbar fremdelte. Mit Verlaub hier klang es aus dem auf Halbmast gefahrenen Graben wie das längst vergessene Schreckgespenst der historischen Aufführungspraxis — kratzig, schief, blass. Natürlich können die Akademisten auch anders, wie sie später im Boulez-Saal mit Benda beweisen werden. Farbenreiches Zusammenspiel, dramatische Affekte, dynamische Raffinessen.

Mit der diesjährigen Premiere positionierten sich die Freiburger hingegen im guten Mittelfeld bei diesen Weltmeisterschaften des Originalklangs. Dass sie unter ihren Möglichkeiten blieben, liegt wohl am Dirigat von Simon Rattle. Der Brite, Wahlberliner und neuer Chef beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunk, begibt sich hier auf ein weniger vertrautes Terrain. Er möchte dynamische Bögen dirigieren, vernachlässigt dabei aber Phrasierung und Variationsreichtum, ohne die die Musik des französischen Barocks schnell ihre Lebendigkeit einbüßt.

Sängerisch sind die Barocktage glänzend besetzt. Marina Rebeka als Cherubini-Medea wurde vom Publikum zu Recht gefeiert. Für die Glücksstunden von Mozarts Mitridate vereinte sich ein makelloses Ensemble um Siyabonga Maqungo, Ana Maria Labin, Elsa Dreisig und Carlo Vistoli. In der Premiere gestaltet Magdalena Kožená stimmlich Charpentiers Médée mit atemberaubenden Nuancen, lotet farbenreich die enttäuschte Geliebte und Kindsmörderin aus, ohne je den Schönklang zu verraten. Im Jason des Belgiers Reinoud Van Mechele findet sie einen ebenbürtigen Gesangspartner. Ein Füllhorn der Stimmen. Da enttäuscht der Berliner Staatsopernchor umso mehr, dem ein Barockklang nicht gelingen will.

Magdalena Kožena und Reinoud van Mechelen in Charpentiers „Médée“, Foto: Ruth Walz

In der Zusammenschau dieser Barocktage kann man den Formenreichtum des langen 18. Jahrhunderts bewundern. Zwischen der tragédie mise en musique von 1693 bis zur opéra comique von 1797 fahren wir mit dem berühmten Salzburger einmal nach Norditalien zur Opera seria und mit dem Melodram über Deutschland zurück. Leider scheitern die drei Operninszenierungen an den Herausforderungen ihrer jeweiligen Gattung. Andrea Breths Cherubini-Medea suggeriert mit Anzügen und Lagerhaus eine vermeintliche Gegenwärtigkeit, verliert sich aber im Vagen. Der Mitridate von Satoshi Miyagi verfolgt mit einem in die Künstlichkeit gesteigerten Orientalismus die gegenläufige Strategie, versinkt aber in einer statutarischen Lähmung, der auch das überbordende Gold von Bühne und Kostümen keinen Glanz verleihen kann. In der Premiere der Barocktage geht es etwas trashiger und bunter zu. Einsichten liefert die Inszenierung aber ebenso wenig wie ihre Repertoiregenossinnen. Das Bühnenbild des Stararchitekten Frank Gehry besteht aus zwei Bergen und drei Wolken — alle aus Stahlwolle. Zwei Käfige verweisen wohl auf die von Regisseur Peter Sellars im Programmheft angesprochenen Flüchtlinge unserer Tage. Warum Médée, die im Exil um Aufnahme bittet, bei jedem Auftritt in neuer aufwendiger Garderobe erscheint — selbst ihr Gefangenen-Overall erinnert an den Entwurf eines Pariser Modehauses — bleibt ein Rätsel und bezeugt nur die undurchdachte Dramaturgie dieses Abends.

Nach drei Medeen habe ich immerhin 6 Kinder auf dem Gewissen — soweit meine Anwesenheit zur Komplizenschaft dieser Bühnenmorde taugt — und doch bin ich auf dem Rückweg keinen Deut schlauer, ist der Medea-Mythos weiter entfernt denn je von meiner Lebenswirklichkeit. Ganz hinten im Regal steht Christa Wolf und da lese ich “… auch Hände haben ein Gedächtnis” — Ohren auch.