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Unser Baby wird 80!

Alle Fotos: Matthias Creutziger

Er ist kein bisschen leise: Der Jazzschlagzeuger Günter Baby Sommer feiert seinen achtzigsten Geburtstag und ist als Trommelwunder bis heute agil wie eh und je. Am 25. August 1943 kam er in Dresden zur Welt, zu Hause aber ist er in der großen Welt des Jazz.

Sein Name ist legendär: Günter Baby Sommer ist ein Erneuerer des Jazz, ein Experimentator, ein Grenzgänger, ein Eroberer, für viele ein Vorbild. Und doch hat er seine musikalischen Wurzeln nie vergessen, sondern sie immer gehegt und gepflegt. Was daraus gedeiht, ist immer wieder überraschend. Denn für Günter Baby Sommer ist der Jazz eine höchst fruchtbare Angelegenheit.

mit Nora Gomringer…

Legendär ist freilich auch die Geschichte seines Zweitnamens, denn dieses »Baby« ist weit mehr als nur künstlerisches Attribut. Vor genau einem Jahrzehnt, zu Sommers Siebzigsten also, hat der Trommler dieses Stück Musikgeschichte sogar in ein Musikstück gegossen: »Von Baby zu Baby« brachte erstmals ein längst schon unverhülltes Geheimnis zum Klingen: Es ist in der Tat die 1898 in New Orleans geborene und 1959 in Chicago verstorbene Schlagzeug-Legende Warren Baby Dodds gewesen, die den gebürtigen Dresdner für immer zum Baby erhob.

Die Story dahinter hat der Musiker wohl schon Tausende Male erzählen müssen: »Als ich so Ende der 60er Jahre eigene Wege ging und versuchte, meine europäische Herkunft auszuloten, spielte ich damals im Sextett von Klaus Lenz, der mich eines Tages regelrecht anschnauzte: „Was machst’n da für’n Scheiß, willst’e alles nochmal neu erfinden wie Baby Dodds?“ – ein anderer Musiker hörte das und sagte „Das ist nicht Baby Dodds, das ist Baby Sommer!“«

Die Geburtsstunde eines Künstlerbeinamens, auf den er sehr stolz sei, nicht zuletzt, um die Erinnerung an Baby Dodds – einem legendären Schlagzeuger, der gemeinsam mit Louis Armstrong und seinem Bruder Johnny Dodds quasi an der Wiege des Jazz stand – wachzuhalten und an dessen Tradition anzuknüpfen. »Es ist mir eine Ehre und ein großes Vergnügen, den Namen dieses alten Meisters, den relativ wenige Leute kennen, durch die Welt zu tragen«, sagt Baby Sommer, der diese Geschichte auf seinem Album »Dedications« in Musik gesetzt hat: »Von Baby zu Baby« endet mit dem Ausruf »Thank you, Baby Dodds!«

Frühe Wurzeln

Die eigentlichen musikalischen Anfänge des Jazzers hatten ganz andere Ursprünge: »Ich hab ja in einer Amateurband gespielt, damals Trompete geblasen, nachdem ich mit zwölf Jahren von meinen Eltern ein Akkordeon geschenkt bekommen hatte. Das vertrug sich nicht miteinander, dieser Akkordeonunterricht und diese mir sehr geheimnisvolle Musik, die ich da immer im Radio auf Stimme Amerikas hörte. Sodass ich dann recht bald zur Trompete griff, weil Louis Armstrong mich sehr stark fasziniert und beeinflusst hatte.«

Wer mag sich wohl heute noch an den jungen Trompeter Günter Sommer erinnern, der seinerzeit bei den Radebeuler Tanzrhythmikern gemeinsam mit Manfred Kugler für schmissigen Sound gesorgt hatte?  Als dort die Stelle am Schlagzeug frei wurde, hatte die Band ein Problem: »Reihum haben wir ausprobiert, wer von uns der Talentierteste für das Schlagzeug ist – das war ich«, blickt Sommer zurück. »Wir haben damals jazz- und bluesbeeinflusste Tanzmusik gespielt, das kann man ohne Trompeter machen, aber schlecht ohne Schlagzeuger. Dann war das mit meiner Trompetenkarriere vorbei und ich spielte ab dem 13., 14. Lebensjahr Schlagzeug.«

Jazz lebt vom Improvisieren

Geübt wurde zunächst mit Mutters Kochtöpfen, dann in einem Jugendklubhaus, wo Instrumente vorhanden gewesen sind. Jazz lebt ja bekanntlich vom Improvisieren – also auch in der Wahl der Mittel. Nur die Sache mit der Tanzmusik wurde ihm schon bald nicht mehr gerecht, beizeiten wollte er Jazzambitionen ins Programm bringen: »Ich war der treibende Keil, dass wir Stücke von Bill Ramsey ins Programm genommen haben, Stücke, die so ein bisschen bluesig gewesen sind, die über Tanz- und Schlagermusik weit hinausgingen. Weil man die Gunst des Publikums ja nur auf sich ziehen konnte, indem man viel Westmusik spielte. Unsere Musik war schon stark davon geprägt, immer nach dem Westen guckend, nach Amerika guckend …«

Zentralquartett, 1994

Nachhaltig beeinflusst wurde der junge Tanz- und baldige Jazzmusiker übrigens am Radio: »Diese wahnsinnige Spannung, die über diese Musik kam, die ich da Nacht für Nacht unter nahezu kriegsmäßigen Bedingungen auf Lang- und auf Kurzwelle gehört habe – Willis Conovers Jazz Hour bei Voice of America -, die hat auch deswegen eine so große Faszination auf mich ausgeübt, weil ich sie nicht verstanden habe …« Diese Neugier alles zu verstehen und zu durchschauen, die ziehe sich seitdem durch sein ganzes Leben, bekennt er. Und Neugier war wohl auch einer der wichtigsten Türöffner für ihn.

»Meine erste Jazz-Schallplatte habe ich in diesem Jugendklubhaus in Radebeul gehört, da hörte ich eines Abends hinter einer Tür eine mir fremde, mich faszinierende Musik – und das war Louis Armstrong! Es gab da einen Jazzklub, dort wurde jede Woche konspirativ hinter einer Tür diese Musik gehört, die wurde immer aufregender für mich!«

Bald darauf ist er in die praktische Jazzszene hineingewachsen, gab es erste Konzerte mit dem Klaus Lenz Quintett, wenig später hörte er Ernst-Ludwig Petrowsky und war stark beeindruckt vom Schlagzeuger Bimbo Gasch. Der heutige Nestor ist zunächst also immer der Jüngste gewesen, der Benjamin, wie er gern dazu sagt. »Das ist eine ganz wichtige Sache für Jüngere: Sucht euch Ältere, sucht euch Erfahrene, steckt auch mal eine Niederlage ein, aber lernt von den Großen!« Eine Botschaft, die er auch als Professor an der Dresdner Musikhochschule vermittelte und zu wiederholen nicht müde wird.

Das erste eigene Jazzkonzert hat Günter Sommer an der damaligen Verkehrshochschule Dresden gespielt, erinnert er sich. »Mit einer zusammengewürfelten Gruppe! Und gleich darauf war ich Mitbegründer dieser legendären Band Boheme Sextett. Wir kopierten da Stücke von Art Blakey, von Horace Silver, von den Jazz Cruisaders, wir gewannen alle Jazzwettbewerbe, die es damals gab. Wir räumten alle Plätze ab.«

Revoluzzer im Jazz

Am stärksten dürfte Sommer diesbezüglich von Max Roach beeinflusst sein worden. »Ich wollte dieser wunderbaren amerikanischen Musik eine neue, eine europäische Klangfarbe entgegensetzen, wollte bestehende Formen zertrümmern und dann aus den Trümmern neue Formen zusammensetzen. Auf den besten Zweigen der Tradition stehen – denn sie bietet uns Anlass zur Auseinandersetzung, zur Reibung.« 

Baby mit Günter Grass…

Innerhalb des Genres wollte er stets den aktuellen, den modernen Strömen folgen und sie schon bald sogar vorgeben. Der Grund dafür lag auf der Hand: »Mich hat in der Jazzmusik immer der revolutionäre Charakter interessiert. Unbequeme Musik als ein Tritt gegen die Wohlgefälligkeit des Kleinbürgertums, ich wollte, dass diese Musik anfasst!«

Ein entscheidender Wendepunkt dürfte die Begegnung mit dem großen Inspirator und Improvisator Peter Kowald gewesen sein: »Da habe ich begonnen, mich von den amerikanischen Vorbildern zu lösen. Aber nicht im Sinne von Ablehnung – ich kam mir eher wie ein Dieb vor. Fortan wurden mir die Begegnungen mit den Europäern sehr wichtig, zumal ich spürte, dass man mit dem eigenen Instrument auch ganz anders umgehen kann.« Sommers Kreativität im Instrumentenbau, im Sammeln und Bauen von ungewöhnlichen und zunächst sogar fremd wirkenden Klangerzeugern ist legendär.

Ebenso diverse Gruppenbildungen im Zusammenhang mit der Jazzwerkstatt Peitz: »Die zehn Jahre von 1972 bis 1982 waren für die Erweiterung meiner Weltsicht wahnsinnig wichtig. Ich hatte dort immer mal wieder das große Vergnügen und zugleich die Herausforderung, die Schlagzeuger in namhaften Formationen zu ersetzen. Zum Beispiel bin ich im Trio mit Evan Parker und Alexander Schlippenbach auf Tour gegangen, das bleibt unvergesslich!« Das brandenburgische Provinznest Peitz hat regelmäßig deutlich gemacht, wie eng verflochten der europäische Jazz mit dem amerikanischen ist und bleibt.

Die erste namhafte Gruppe des modernen und freien Jazz in der damaligen DDR ist für Sommer um 1965 das Friedhelm-Schönfeld-Trio gewesen, gefolgt vom Zentralquartett mit dem Vorläufer Synopsis, das von Anfang an als die Viererbande des alten DDR-Jazz galt, »weil wir uns gegenseitig immer überraschen konnten. Diese Spannung nach so vielen Jahrzehnten – dieses Quartett hat eigentlich immer gespielt, als wär es das erste und das letzte Mal. Dabei haben wir zu DDR-Zeiten oft nicht gewusst, wie lange wir unsere Töne, unsere Energie, unseren Sound noch über die Mauer blasen durften, damit die andere Seite das auch mal hört. Symbolisch. Diese Kraft hat bis zuletzt nicht nachgelassen.«

Tragisch dann der im Juli 2023 durch den Tod von Ernst-Ludwig Petrowsky unter dieses wesentliche Kapitel deutscher Jazzgeschichte gesetzte Schlussstrich. Geblieben sind allerdings Erinnerungen an grandiose Konzerte und sowieso all die wunderbaren Aufnahmen dieser legendären Viererbande, die auch international Furore machte.

…mit Volker Braun…

Günter Baby Sommer hat freilich immer wieder auch Genregrenzen überschritten und beispielsweise Jazz mit Literatur verbunden. Schlüsselerlebnisse dieser inspirativen Verschmelzung sind Begegnungen mit Günter Grass gewesen, dessen Blechtrommler Oskar Matzerath plötzlich zum Klingen gebracht wurde, später haben die beiden auch »Die Rättin« eingespielt und -gelesen; es folgten Arbeiten mit dem Dresdner Schauspieler Friedrich-Wilhelm Junge zu Texten des großen Johannes Bobrowski (»Alles auf Hoffnung, mehr ist nicht zu sagen«) sowie die Zusammenarbeit mit Christoph Hein, Christa Wolf und Nora Gomringer. Erst jüngst gipfelte Sommers literarisch-musikalische Affinität in der Jazz-Edition Radebeul, wo die »LUF-Passion« aufgeführt wurde, ein ambitionierter Gedichtband von Volker Braun zum dunklen Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, die noch immer nicht gründlich genug aufgearbeitet worden ist.

Jazz als Bekenntnis

Ein ähnliches Bekenntnis im Jazz hat Günter Baby Sommer 2012 in seinen »Songs for Kommeno« abgelegt und darin die  Geschichte eines der von der deutschen Wehrmacht massakrierten Dörfer in Griechenland thematisiert.

…und Christoph Hein

Sommers menschliche Haltung ist von seinem musikalischen Stil nicht zu trennen: »Ein hochindividualisierter Stil, etwas, das aus der Welt der Musik geschöpft wird und in die große Welt der Musik zurückfließt. Ich gebe es der Welt der Musik wieder zurück.«

Zum 80. Geburtstag von Günter Baby Sommer wird die Semperoper Ende September gemeinsam mit Dynamite Konzerte und dem Jazzclub Tonne das dreitägige Sommerfest »Unser Baby wird 80« ausgerichten.