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Zum Ballett nach Prag?

Foto: Martin Divisek

»Cinderella« von Jean-Christophe Maillot feiert ihre Wiederaufnahme der tschechischen Erstaufführung vom April 2011 – Popelka tanzt auf goldenen Füßen ins Märchenglück.

Kaum zu glauben. Diese choreografische Interpretation eines Klassikers der Märchenballette mit der Musik von Sergej Prokofjew kreierte Jean-Christophe Maillot 1999 für Les Ballets de Monte-Carlo. Sie sind natürlich zu erkennen, diese herzberührenden Märchenmotive, wie sie für uns die Gebrüder Grimm in ihrer Fassung vom »Aschenputtel« bekannt gemacht haben.  

Prokofjews Ballett wurde 1945 beim Moskauer Bolshoi-Ballett uraufgeführt, ging dann bald um die Welt, regt immer wieder an zu neuen, mitunter auch recht speziellen, Interpretationen. Ganz sicher gehört Maillots Fassung, wie sie jetzt aktuell beim Nationalballett im Prager Nationaltheater zu erleben ist, zu diesen speziellen. Vor allem, weil hier sowohl die Persönlichkeit des Aschenputtels von etlichen Klischees befreit ist – aber auch, weil sie absurde, bis an die Grenzen der Skurilität überdrehte Charaktere umtanzen, ohne sie jemals erreichen zu können. Das ist eine enorme Herausforderung für die Prager Kompanie. Auch für das Publikum übrigens, am Ende aber ein gewinnender Erfolg für alle.

Prokofjews Musik, gespielt vom Orchester des Nationaltheaters unter der Leitung des Musikdirektors Jaroslav Kyzlink, ist in erster Linie tänzerisch: Rhythmen im Dialog mit Melodik der Sehnsucht, Überschwang und grelle Übertreibung im krassen Wechsel zu den Motiven sehnsuchtsvoller Bescheidenheit jenes letztlich doch so verkannten Cinderella-Aschenputtels, tschechisch: Popelka. Choreografisch, mit der Aufnahme klassischer und neoklassischer Formen bis hin zu harten, zeitgenössischen Brüchen gelingen, mitunter auch bei derbem Humor, scharf gezeichnete Charakterisierungen einer um sich kreisenden Gesellschaft, der eigentlich jede Art der Orientierung des Miteinanders verloren gegangen ist. Wenn es auch zunächst etwas ungewohnt scheint: diese choreografische Interpretation von Maillot nimmt diese Bezüge konsequent auf. Es verwundert geradezu, wie zeitgemäß das alles vor allem tänzerisch und optisch wirkt. Auch nach gut 25 Jahren – weder Schnee noch Staub von gestern.

Foto: Martin Divisek

Einen höchst emotionalen Akzent setzt schon die Eingangsszene. Zwar wird Prokofjews Melodik der Erinnerung an die verstorbene Mutter aufgenommen, aber dennoch ist die Gegenwart schon präsent. Hier ist die Mutter zurückgekehrt; sie ist die Fee und wird weder ihr Kind noch ihren Mann verlassen. So wird Ayaka Fujii in dieser ganz besonderen Feenrolle zu einer entscheidenden Person dieses in die Gegenwart führenden Märchens. Alina Nanu als Popelka, im Kleid der Mutter, kann bald den Blick wenden, im Tanz zu sich finden. Weder goldene oder gläserne Schuhe noch blutige Füße sind hier von Bedeutung. Alina Nanu setzt dadurch, daß sich auf bloßen Füßen tanzt, mehr als nur ein Zeichen: Aus der Trauer wird Hoffnung, im übertragenen Sinne, Aufstieg aus der Asche. Der Tanz macht das möglich. Schwerer fällt es dem Vater: Patrik Holeček gelingt es berührend, seiner schwermütig-schwankenden Unentschlossenheit Ausdruck zu geben. Für ihn ist alles zerbrochen mit dem Tod seiner Frau: hilflos der Vater, überfordert auch mit dem Tod der Mutter seines Kindes. 

Wie Bruchstücke wirken somit auch die verschiebbaren Versatzteile auf der Bühne von Ernest Pignon-Ernest. Hier fügt sich nichts mehr zu einem Ganzen. Auch die Worte, die Erinnerungen wollen sich nicht mehr fügen. So verstört zu Beginn auch noch eine zerborstene Wand mit Wörtern und Silben, Trennungen und Überschreibungen; nichts zu entziffern, alles durcheinander geraten.  

Aber – und das zeichnet diese Interpretation aus – bald zeigen sich höchst existenzielle Gegensätze: bis in den Exzess irreführende Eskapaden der Selbstüberschätzung. Wie hier jede Bodenhaftung verloren gegangen ist, interpretiert der Choreograf mit Evgeniya Victory Gonzalez als Stiefmutter, Alexandra Pera und Mariana Gasperin als ihren total überdrehten Töchtern zu einem schrillen Trio Infernale. Jérôme Kaplans Kostüme geben hier im besten Sinne auch dem Affen Zucker. Es wird grell, es wird schrill bei diesen Abziehbildern einer spaßverliebten Gesellschaft, die sich geradewegs in den Abgrund tanzt. Das führt in absurde Auswüchse: Francesco Scarpato und Giovanni Rotolo nutzen als professionelle Spaßvögel alle Chancen, die ganze Gesellschaft aufzuheizen. Die vier Freunde des Prinzen, dazu vier weitere recht seltsame Figuren, bis hin zur ganzen Gästeschar des Balles mit einem Quartett exotischer Tänzer. Und da will dieser Prinz seine Braut, die Frau fürs Leben finden?

Jakub Rašek ist dieser Prinz, der sich schon sehr von seiner Umgebung unterscheidet. Berührend, wie dieser Tänzer seiner Verunsicherung Ausdruck geben kann, wie er an den offiziell geladenen, sich aufdrängenden Bräuten samt deren Muttermanagerin vorbei tanzen möchte, so als sähe er sie schon, in den Gedanken der Sehnsucht möglicher Flucht aus diesem Tanztheater der falschen Gefühle, diese jungen Frau, die dann, eben ganz und gar ungeladen, einfach den Raum betritt. Das zeichnet diesen Prinzen aus: er nimmt sie wahr. Sie ist, wie sie ist, ganz nah am Boden. Mit bloßen Füßen tanzt sich Alina Nanu in sein Herz. Das mag sein wie in der großen Revue, oder als hätte jetzt der Broadway Einzug gehalten ins ehrwürdige Prager Nationaltheater am Ufer der Moldau.

Foto: Martin Divisek

Aus den Bruchstücken der Szene führt eine Treppe, und dieses Aschenputtel, diese Popelka, kommt herab. Und sie wird auch, wenn die Uhr schlägt, wieder heraufsteigen. Für den Prinzen schlägt die Stunde der Entscheidung: ihr folgen oder nicht? Ob er sie überhaupt finden wird? Denn den einen Schuh, der ihr passen würde, hat sie hier ja gar nicht verloren. Wie sollte es in dieser Fassung anders sein: An ihren Füßen soll er sie erkennen – die sind nämlich weiß und rein, die der Schwestern hingegen total verdreckt.

Für den Vater gibt es einen versöhnenden Epilog in dieser Fassung: Er hat den Mut, diese zweite Frau zurückzuweisen und sich von seiner verstorbenen Frau zu verabschieden in einem berührenden Tanz eben mit jener Fee, als die sie ihn und die Tochter bislang begleitete. Tod und Leben, Abschied und Liebe, immer wieder, treppauf, treppab, immer wieder mit Bodenhaftung und so, wie eben diese Popelka, auf goldenen Füßen ins Märchenglück des Balletts.