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Pizzicato-Panoptikum

Štěpánka Pučálková (Flora Bervoix), Komparserie, im Hintergrund: Sächsischer Staatsopernchor Dresden (Foto: Ludwig Olah)

Moulin Rouge auf der Bühne der Semperoper! Nichts anderes hatte der Shooting-Star der Opernregie Barbora Horáková Joly wohl im Kopf. Nach »Der goldene Drache« und »Die kahle Sängerin« legt sie mit »La Traviata« bereits ihre dritte Regiearbeit in Dresden vor. Obwohl die ausgebildete Sängerin erst 2018 als Regie-Newcomerin des Jahres mit dem International Opera Award ausgezeichnet wurde, zeigt die Hausregisseurin der Staatsoper Hannover im Semperbau routiniertes Musiktheater.

Der Versuch, die Transgression des Varietés im 21. Jahrhundert auf die Opernbühne zu stellen, könnte dabei leicht ins Triviale oder Peinliche entgleiten. Dank ihres Gefühls für Timing, Musik und Personenkonstellationen gelingt Horáková jedoch eine leichtfüßige, zirzensische Atmosphäre. Ästhetisch grenzt das gelegentlich ein wenig ans Altmodische, aber ihr meisterliches Regie-Handwerk zaubert einen ebenso tempo- wie abwechslungsreichen Opernabend.

Patrick Vogel (Gastone), Nina Minasyan (Violetta Valéry), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Komparserie (Foto: Ludwig Olah)

Auf der Bühne drehen sich zwei gusseiserne Ränge um- und ineinander, erlauben endlose Verwandlungen, ohne dabei je den Einheitsraum aufzugeben (Bühne: Eva-Maria van Acker). Die minimalen Gerüste fokussieren dabei das Geschehen ganz aufs Bühnenpersonal. Das Licht von Fabio Antoci wechselt rasant. So findet man sich in einem szenischen Taumel, dem man sich auch dank der Choreographie von Juanjo Arqués nur schwerlich entziehen kann. Geschickt bringt Horáková dann aber auch alles zum zeitlupenhaften Stillstand, wenn sie im Tableau des 2. Aktes die Zeit einfach im Dreivierteltakt gefrieren lässt.

Nina Minasyan (Violetta Valéry). Foto: Ludwig Olah

Der Italiener Leonardo Sini gibt im Graben sein Hausdebüt und entlockt der Staatskapelle einen beeindruckend geschmeidigen Verdi-Ton. Wie er im Pianissimo der Streicher sehnsüchtig-emotional die Ouvertüre eröffnet, nur um sie dann, ganz im Sinne der Szene, mit einem Tutti-Zirkus-Humtata zu brechen, ist nicht nur effektvoll, sondern auch geistreich. Überhaupt scheint er sich mit der Kapelle auf eine Suche nach einem Kaleidoskop der Pizzicati begeben zu haben. So variantenreich, so ausdrucksstark, so metaphysisch bis an die Grenzen des Unsagbaren habe ich selten ein Orchester zupfen gehört.

Dabei steht ihm ein solides Sängerensemble zur Seite. Der armenische Tenor Liparit Avetisyan hat Alfredo Germont bereits an internationalen Häusern wie Sydney oder dem Royal Opera House London erfolgreich verkörpert. Aus den zahlreichen, gut besetzten Nebenrollen stechen Štěpánka Pučálkovás als Flora und Lawson Anderson als Marchese hervor. Fokus allen Geschehens bleibt aber die Titelpartie. Die ebenfalls aus Armenien stammende Sopranistin Nina Minasyan verleiht Violetta Valéry, der Gefallenen, sowohl den Starappeal der Varietésängerin als auch deren Verletzlichkeit. Insbesondere im dritten Akt schlägt sie jeden in den Bann, mit ihrer Stimme aus Milch und Honig, in die Leid und Vanitas schmerzlich einsickern.

Die finale Wiedervereinigung mit Alfredo, sowie die Läuterung des Vaters, das ganze überforcierte Happy Ending der italienischen Oper ist in Horákovás Inszenierung nur eine Fieberfantasie Violettas. Kein Augenkontakt zwischen den Liebenden, keine Berührung. Alfredo und sein Vater verschwinden im Hintergrund und erlauben so das Psychogramm einer Liebenden, die sich in all ihrer körperlichen Vergänglichkeit in die ewige Hoffnung der Imagination flüchtet und stirbt.

Besuchte Vorstellung: 12. Oktober 2022. Für die verbleibenden Vorstellungen in dieser Spielzeit (Heute; 27., 30. Oktober) gibt es noch Karten in den höheren Preiskategorien.