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Miauuuuuuuuuuuuuu!

Der Wind bläst fönheiß. Die Elbe schiebt sich langsam an den trockenen Wiesen der ausgedörrten Stadt vorbei. Schwitzende Amerikaner, die auf Abkühlung hoffen, drängen sich in die Frauenkirche. Es ist Sommer – und die Hitzewelle ist da. Pünktlich zum Spielzeitende steigt das Thermometer auf Rekordwerte. Der Bühnenarbeiter ist vielleicht schon auf Mallorca, die Referentin in der Toskana und ein großer Teil der Kapellmusiker im legendär heißen Graben in Bayreuth.

Ist das Opernhaus also verwaist? Aber nein; sind die Mäuse aus dem Haus, tanzen die Katzen auf dem Tisch. »Cats«, das Musical, ist inzwischen schon ein ziemlich alter Kater. Zwischen uns, den Nachgeborenen, und der Premiere im Jahr 1981 im Londoner Westend liegen mehr als vier Dezennien. In Katzenjahren wäre das Musical beinahe hundert. Dank der immer neuen Darsteller, die in die Katzenhäute schlüpfen, wirkt es immer noch frisch. Die Tourproduktion mit ausnahmslos britischen Tänzern und Sängerinnen ist ein virales Kraftpaket und dank der Originalsprache kann man sich an den hintergründigen Gedichten, die die Katzen da vortragen, grenzenlos erfreuen. Weltweit hat das Musical in über 40 Jahren an die 4 Milliarden Dollar eingespielt. Mit »Cats« begründeten Lloyd Webber und sein Produzent Cameron Mackintosh den Trend globaler Megamusicals.

Auch nach vierzig Jahren beleuchtet der Pappmond allabendlich die katzensoziologische Frage, wie man tanzend, ohne Kratzen und Beißen, das schnurrende Miteinander organisiert. (Alle Fotos: Alessandro Pinna, BB Promotion)

Also, warum schnurrt das Kätzchen immer noch? Die Songtexte aus der Feder des englisch-amerikanischen Nobelpreisträgers T.S. Eliot sind hintergründig witzige Miniaturen aus den 30er Jahren. In Eliots Gedichten aus »Old Possum’s Book of Practical Cats« gibt es allerdings keinerlei Handlungszusammenhang, und der von der Royal Shakespeare Company kommende Regisseur Trevor Nunn hat wenig bis gar nichts an Handlung hinzugefügt. Tanzende Katzen auf der Bühne? In London glaubte anfangs niemand an einen Erfolg. Andrew Lloyd Webber musste, um die Theatermiete im teuren Londoner West End zahlen zu können, sein Eigenheim mit einer Hypothek belasten, so geht die Mär.

Alles hätte also so fundamental schiefgehen können wie bei der 2019er Verfilmung des Musicals mit Judy Dench und Ian McKellen. Ging es aber nicht, wie wir heute wissen. Und so sitze ich in der Semperoper und kann mir einen Spaß daraus machen, dem Erfolgsgeheimnis auf die Spur kommen zu wollen. Etwas an dieser Revue in hautengen gestreiften Aerobic-Trikots mit Kunstfellbesatz muss die Londoner und ein Jahr später auch die abgebrühten New Yorker so begeistert haben, dass sich der Siegeszug nicht mehr stoppen ließ. Irgendwann ist Erfolg auch ein Selbstläufer, aber ganz ohne einen zündenden Funken geht es doch nicht!? »Cats« ist ein wohlgepflegtes, sprühendes Spektakel, das mit bis zu 20 Kätzchen auf einer geschickt begrenzten Bühne schnell Fülle erzeugt. Darüber hinaus bietet es eine wahre Fülle an Rezeptionsmöglichkeiten.

Von Anfang an war die Produktion als zirzensisches Gesamterlebnis konzipiert. Der Müll der Deponie, auf der sich die Katzenversammlung trifft, schwoll in London bis ins Theaterfoyer. Im Englischen spricht der Theatermacher hier nicht mehr vom Bühnenbild, sondern gern vom environment. Dank der erstmals bei allen Sängern eingesetzten Mikroports konnte die frontale Perspektive der Bühne aufgebrochen werden; das Publikum wurde selbst Teil dieser “midnight pussy-convention”, wie es der Guardian-Rezensent der Uraufführung lakonisch beschrieb. Eingehüllt in Klang und Action! Das wäre postdramatisches Theater, wenn man ein Konzept des diese Woche verstorbenen Theatertheoretikers Hans-Thies Lehmanns bis an seine Grenzen überdehnen will.

Und dieses Spektakel mit Schauwert und Sexappeal traf auf ein zumindest rhetorisch krisengebeuteltes London. Die 70er werden bis heute in England als ein Jahrzehnt des Niedergangs verstanden. Margaret Thatcher befeuerte diese Stimmung und nutze sie geschickt als Wahlkampfmaschine für ihren Erdrutschsieg, der sie 1979 für 18 Jahre an die Macht bringen sollte. Energiekrisen und soziale Verwerfungen bestimmten das vorangegangene Jahrzehnt. Der Winter 1978-79 ging, Shakespeare paraphrasierend, als winter of discontent in die britische Geschichte ein und wird noch heute gern von wahlkämpfenden Tories als Schreckgespenst herbeizitiert. Kraftfahrer streikten. Ihnen folgten Totengräber — Ach, armer Yorick! — und die Müllabfuhr. In den städtischen Parks stapelte sich wochenlang der Müll. Unzufrieden und voller Unbehagen schaute das Land auf sich selbst und aufgrund der ungewöhnlich kalten Witterung wurden die für die Zerstreuung so wichtigen Rugby- und Fußballspiele im ganzen Land abgesagt. Müll und Entertainment — da scheinen die harmlosen Kätzchen doch gleich etwas brisanter!

Ein Haufen zweibeiniger Vierbeiner. Beachtlich, wie selbst in Ensembleszenen die einzelnen Katzencharaktere plastisch erkennbar bleiben.

Bereits 1970 hatte der japanische Ingenieur Masahiro Mori das uncanny valley beschrieben, also die Akzeptanzlücke zwischen einem natürlichen Menschen und einem menschenähnlichen Roboter. Paradoxerweise fällt es uns schwerer, einem Roboter über den Weg zu trauen, der uns in puncto Ähnlichkeit nur knapp verfehlt. Unheimlich finden wir so etwas! Lloyd Webbers Katzen hingegen winken uns freundlich mit ihren falschen Tatzen von der anderen Seite dieses Tales zu. Wir wissen schon, es stecken Menschen in der Katzenhaut, aber sie sind eben auch so wunderbar weit entfernt. Der maßstabsgerecht vergrößerte Müll aus Pappmaché ist eben nicht unser Müll, und doch kommt er uns unbewusst bekannt vor. Die Mittel des Theaters bringen hier eine Realität in Erscheinung, die weit genug entfernt scheint. So sind Relevanz und Flucht glücklich vereint!

Maiya Hikasa als junges Kätzchen Victoria, ganz in weiß, trägt vor allem tänzerisch zum Gelingen des Abends bei.

Das uncanny valley funktioniert auch auf einer anderen Ebene sehr gut, auf der sich das Unheimliche mit dem Unbewussten vermischt. Diese Aerobic-Katzen sind frech und erotisch, ganz Körper und doch züchtig bedeckt. Nur hier und da betont ein wenig Kunsthaar die vollbekleidete Nacktheit. “I want ugliness, paganism,” rief einst die Choreographin Gillian Lynne ihren Tänzern auf der Probe zu. “Ihr seid keine süßen Tierchen!” Pagane Hässlichkeit, dionysisches Fest? Was wurde nur den Generationen von Kindern zugemutet, die auf Familienurlauben in New York oder Hamburg in die Vorstellung geschleppt wurden und das wohl auch wollten? »Cats« erlaubte den Eltern nicht nur gegenüber dem Nachwuchs die Lizenz zur Verleugnung. Das sind Katzen, das ist nicht sexy? Schauen Sie mal in die ikonischen Augen des Plakats, auch dieses, seit 1981, unverändert Teil des Spektakels. Da spiegeln sich zwei Tänzer, die problemlos für eine Stripbar auf der Reeperbahn werben könnten. Historisch gesehen waren die Rotlichtviertel in London und New York immer in der Nähe der Theater. Der permanente Flirt, den Ed Wade, immer wunderbar ironisch gebrochen, als Rum Tum Tugger mit dem Publikum und seinen behaarten Freunden vollführt, ist nur die Spitze des Begehrens, das uns das Geld für teure Tickets aus den Taschen zieht.

Theater ist eben eine Maschine, aber eine emotionale Maschine. Das ist bei Shakespeare nicht anders als bei Verdi — auch wenn wir gemeinhin meinen wollen, die hohe Kunst erlaube uns etwas mehr Raffinesse. Ohne Emotionen funktioniert weder Weber noch Webber, und so kann man bei »Cats« die emotionale Mechanik des Theatralen in Reinform beobachten. Webber zieht mit dem wohl bekanntesten Hit der Show, »Memory«, musikalisch einen roten Faden durch den Abend. Immer wieder leuchtet er auf. Er gehört Grizabella, der Glamourkatze. Gealtert, gebrochen, nur noch ein Schatten ihres früheren mondänen Selbst ist sie die Aussätzige der pussy-convention. Niemand will mit ihr spielen. Als Zuschauer werden wir von ihr geschickt zu Komplizen gemacht. Nachdem Jacinta Whyte den Showstoppper zum ersten Mal intoniert, denkt man heimlich bei sich: naja ganz schön, hab’ ich aber auch schon besser gehört. Ein Gefühl, das einen bei diesem formidablen Cast sonst nie beschleicht. Bei der Reprise am Ende des zweiten Aktes wird Whyte allerdings zu einer brüllend, schnurrenden Großkatze und drückt einen mit allen vokalen Kunstgriffen ins Sitzpolster — kathartisch geläuterte Kritikerseele? Ist das noch emotionale Manipulation oder schon große Theaterkunst?

Damit kämen wir nach den sozialen Aspekten und den sexuellen wie emotionalen Reizen zu dem intellektuellen Vergnügen, das man an diesem Abend finden kann. »Cats« ist ein Concept Musical ganz im Geist der Postmoderne. Ich denke hier nicht unbedingt an Lyotard, dessen Buch »La condition postmoderne« auch 1979 erschien, sondern eher an die Blütezeit der postmodernen Architektur der 1980er Jahre: Versatzstücke der Architekturgeschichte, grotesk verzerrt. Bei »Cats« kann man dieses zitathafte Bedienen allerorten wiederfinden. Musikalisch wird da mit dem Lamentobass unüberhörbar ein Klassiker der westlichen Musikgeschichte intoniert. Choreographisch swingt das Pendel zwischen Jazztanz und Ballett, aufgepeppt mit Katzengestik, nur um sich dann völlig unvorbereitet in einer Stepptanz-Nummer zu entladen.

Munkustrap, gesungen von Russell Dickson, fällt die Aufgabe zu, das Publikum in die Bräuche des jährlichen Jellicle-Balls einzuweihen.

Vor allem aber ist die Dramaturgie voller raffinierter postmoderner Volten. Das Ganze kommt wie die Wette von ein paar gewitzten Theaterstudenten daher. Mit wie wenig Handlung bekommen wir einen Spannungsbogen hin, scheinen sie sich gefragt zu haben. Hier beginnt das Knochengerüst der Dramentheorie seinen Tanz auf dem Vulkan. Konflikt heißt das Zauberwort eines jeden Proseminars. Konflikte brauchen Gegenspieler – und der Kater Macavity ist das bis ins Comichafte übersteigerte Abbild eines Bösewichts! Der englische Muttersprachler denkt bei cavity zuerst an das Loch im Zahn, aber hier ist es eher eine produktive Lücke der Dramaturgie. Macavity spukt als körperlose Angst durch die Ritzen, bevor er erst spät im zweiten Akt in persona erscheint. Mit Old Deuteronomy entführt er den patriarchalen Ruhepunkt der Katzengesellschaft, und mit einem perfiden Kurzschluss legt er das ganze Theater lahm. Zappenduster! Die Maschine steht. 

Wie löst man diesen theatralen Konflikt? Mit einem deus ex machina! Hier ist es ganz wortwörtlich ein zaubernder Kater, der zuerst die Theatermaschinerie wieder ins Laufen bringen muss und dann Old Deuteronomy einfach wieder unter einem Tuch hervorholt. Aber halt, da war doch noch was mit Erlösung und Katharsis? Nach dem  Vorbild der Mysteriendramen erlöst Old Deuteronomy die gealterte Grizabella und schenkt ihr, wie es der jährliche Brauch verlangt, ein neues Katzenleben. Befreit entschwebt sie in den Theaterhimmel. Die Zauberflöte ist nicht weit. So viel unverhüllte Anleihe bei der Theatergeschichte auf solch mechanisch-brachiale Weise ist eigentlich unverschämt und dann doch wieder ein komisches, intellektuell-ironisches Vergnügen ganz eigener Art.

Dann mal ab in den Sommer, falls Sie bis hier diesen kulturwissenschaftlichen Katzengesang verfolgt haben! Pfote aufs Herz, mir selbst wäre es dafür gerade zu heiß. In der Semperoper funktioniert die Klimaanlage im Übrigen hervorragend, das Premierenpublikum war zahlreich und begeistert. Miauuuuuuuuuuuuuu!

You have now learned enough to see
That cats are much like you and me
And other people whom we find
possessed of various types of mind.
For some are sane and some are mad
And some are good and some are bad.

(T.S.Eliot)

»CATS«
Musik: Andrew Lloyd Webber
Dirigent: MATHIEU SERRADELL
Production Musical Supervisor: GRAHAM HURMAN

Katzen:
Jacinta Whyte (Grizabella)
Martin Callaghan (Old Deutoronomy)
Hal Fowler (Gus/ Bustopher Jones/Rumpus)
Russell Dickson (Munkustrap)
Ed Wade (Rum Tum Tugger)
Liam Mower (Quaxo/Mistoffelees)
Philip Bertioli (Skimbleshanks)
Ella Kemp (Rumpelteazer)
Harry Robinson (Mungojerrie)
Sarah-Marie Maxwell (Jennyanydots/Gumbie)
Aimee Hodnett (Jellylorum)
Aaron Elijah (Macavity/Admetus)
Aaron Hunt (Bill Bailey)
Sebastian Goffin (Rumpus/Alonzo)
u.a.

Bis 7. August täglich zwei Vorstellungen. Alle Infos: https://www.semperoper.de/spielplan/stuecke/stid/cats/62089.html#a_29443