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Musik aus ganzem Herzen

Michail Jurowski (1945-2022). Alle Fotos: Matthias Creutziger

Wir trauern um den Dirigenten Michail Jurowski, der gestern im Alter von 76 Jahren verstarb.

Am 25. Dezember 1945 in Moskau geboren zu sein, nur gut ein halbes Jahr nach Kriegsende, das waren gewiss keine optimalen Ausgangsbedingungen für eine Künstlerlaufbahn. Die Biografie des Dirigenten Michail Jurowski verlief von Anfang an alles andere als einfach. Geboren am Weihnachtstag, stammte er von jüdischen Vorfahren ab, was ihm in der Sowjetunion damals viele Chancen verbaute. Zwar verkehrten im Hause Jurowski namhafte Persönlichkeiten des Kulturlebens; Aram Chatschaturian, Michail Romm, David Oistrach und viele andere gingen bei Michails Vater, dem Komponisten Wladimir Jurowski, seinerzeit ein und aus. Doch die jüdische Herkunft der Familie erwies sich in jenen Jahren wiederholt als fatal. Michail Jurowski, der als Heranwachsender vierhändig Klavier mit Dmitri Schostakowitsch spielte und von ihm sagte, „er kannte mich früher als ich ihn“, hatte diesem eigenständigen Meister viel zu verdanken und pflegte das Werk dieses Komponisten mit besonderer Hingabe.

Bei Geburtstagen saßen im Hause Jurowski oft Komponisten, Interpreten und Filmleute am Tisch, ein für den jungen Michail ganz selbstverständliches Umfeld; dennoch spürte er während des Studiums am Moskauer Konservatorium die Auswirkungen des Antisemitismus in der Sowjetunion und resümiert die Situation in Rückblicken so: „Bei jedem Start stand ich zehn Kilometer weiter hinten.“

Er musste sich stets mehr anstrengen und beweisen als die meisten seiner Kommilitonen, wurde aufgrund seiner künstlerischen Reife aber dennoch Assistent von Gennadi Roschdestwenski beim Großen Sinfonieorchester des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens. Bei späteren Positionen wurde Jurowski jedoch immer wieder mit seiner Herkunft konfrontiert. Viele Chancen wurden ihm in der sowjetischen Heimat verwehrt. Auch deswegen gastierte der Dirigent ab Ende der 1970er Jahre regelmäßig an der Komischen Oper in Berlin und war von 1989 an Gastdirigent an der Dresdner Semperoper. Die deutschen Kontakte sowie zunehmende Anfragen aus anderen westlichen Ländern boten dem Dirigenten Gelegenheit, im Jahr 1990 mit seiner gesamten Familie – Ehefrau Eleonora, Mutter und Schwiegermutter sowie den drei Kindern Vladimir, Dmitri und Maria – endgültig nach Deutschland überzusiedeln. Seitdem lebte er in Berlin und dirigierte in der ganzen Welt.

In den 90ern arbeitete Michail Jurowski an allen drei Berliner Opernhäusern, obendrein mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. 1992 wurde er Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford, 1997 GMD in Rostock, zwei Jahre später wurde er Chefdirigent an der Oper Leipzig. Parallel dazu war er ständiger Gast beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sowie ab 2003 Erster Gastdirigent am Tonkünstler-Orchester Niederösterreich und von 2006 bis 2008 Chef beim WDR-Rundfunkorchesters Köln. Das waren ungemein fruchtbare Jahre, sie blieben aber nicht ohne Folgen: Während einer Aufführung von Modest Mussorgskis »Boris Godunow« an der Deutschen Oper Berlin brach Jurowski im Herbst 1996 zusammen. Sein Herz setzte etwa vier Minuten lang aus. Gestern, fünfundzwanzig Jahre später, ist Michail Jurowski verstorben, wie seine Familie mitteilte.

Die Sächsische Staatskapelle Dresden verband eine lange musikalische Geschichte mit dem Dirigenten. Mit Giuseppe Verdis »Requiem« gab er in den traditionellen Konzerten zum Dresdner Gedenktag am 13. Februar 1990 sein Konzertdebüt in der Semperoper. In der Folge dirigierte er bei der Kapelle in Symphoniekonzerten und Aufführungsabenden vor allem Werke von Dmitri Schostakowitsch, aber auch Kompositionen von Johannes Brahms, Mieczysław Weinberg, Benjamin Britten und Hans Werner Henze. Den von der Staatskapelle mitinitiierten Internationalen Schostakowitsch Tagen Gohrisch war Michail Jurowski in besonderer Weise verbunden und leitete dort bereits im ersten Jahrgang einen Außerordentlichen Aufführungsabend. Auch in den folgenden Jahren bis 2013 kehrte Michail Jurowski nach Gohrisch zurück, davon zeugt heute noch die 2017 bei Berlin Classics erschienene CD mit Live-Mitschnitten seiner Festspiel-Konzerte von 2010 an. Das letzte Mal dirigierte Michail Jurowski die Staatskapelle im Sonderkonzert zum Gründungstag des Orchesters am 22. September 2017 im Palais im Großen Garten.

Der Orchestervorstand der Staatskapelle Dresden:

»Noch gut erinnern wir uns z. B. an die erste ›Schwanensee‹-Probe mit Michail Jurowski im Graben der Semperoper. Der zunächst streng wirkende Kapellmeister ›russischer Schule‹ entpuppte sich sehr schnell als der herzensgute, dabei der intensiven musikalischen Arbeit bedingungslos verpflichtete Künstler, der sich sehr bald großer Beliebtheit erfreute. Seither gibt es so viele gemeinsame musikalische Erlebnisse: Ganz besonders das Werk Dmitri Schostakowitschs hat seinen heutigen Platz in unserem Repertoire auch durch ihn gefunden – somit gilt er uns auch als ›Spiritus Rector‹ unserer Internationalen Schostakowitsch Tage, deren Entstehung er mit inhaltlicher Unterstützung, mit Vermittlung von Kontakten und vor allem mit seinen Dirigaten in der Gohrischer Konzertscheune nachhaltig beförderte. Michail Jurowski hat immer aus ganzem Herzen Musik gemacht. Wir werden ihn nicht vergessen!«