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Mein Jahr als Musikkritiker II

Absagen, Aufatmen, Absagen …

Das Musikjahr 2021 begann mit einer Absage: Just 80 Jahre nach der Uraufführung von Olivier Messiaens »Quatuor pour la fin du temps« konnten die Internationalen Messiaen-Tage in Görlitz / Zgorzelec erneut nicht wie geplant umgesetzt werden. Lediglich eine Art Andacht gab es, zu der diese unter unsäglichen Umständen hier entstandene Musik ansatzweise in Ausschnitten gehört werden konnte.

Das Musikjahr 2021 wurde mit Absagen fortgesetzt. Hille Perl konnte und durfte nicht zum erwarteten Feature-Ring ins Festspielhaus Hellerau kommen. Statt Musik zu erleben und über Musik zu sprechen, zu schreiben, war die Musikkritik gezwungen, über Absagen, Ausfälle und deren Ursachen zu berichten. Während wir mit dem Fotografen Matthias Creutziger bangten und ein Feature über seine Corona-Erkrankung produzierten, vertieften sich einstige Musikerkollegen von ihm in die Tiefen der Netzwerke und wollten lauthals bewiesen sehen, dass es weder ein Virus noch eine Gefährdung geben würde. Statt dessen verstiegen sie sich ins Reich der sprudelnden Fantasien und ereiferten sich über staatliche Repressionsmaßnahmen.

Über die gegebene Möglichkeit, darüber im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu sprechen, freuten sie sich – sprangen dann aber furchtsam ab, als es tatsächlich zum  Interviewtermin kommen sollte. Wie nennt man solch eine Haltung? Selbstentlarvend, genau.

An der Semperoper erhob sich ein Streit zwischen Intendant und Chefdirigent um die Frage, warum hier nicht geprobt und musiziert werden könne, während das anderenorts doch möglich sei. Ein überregional widergespiegeltes Thema.

Im Februar durfte an den 50. Todestag von Rudolf Mauersberger erinnert werden. Der einstige Kreuzkantor hätte wohl weder für möglich gehalten, dass sein Chor in heutigen Zeiten für weihnachtskitschige Stadionkonzerte herhalten würde, noch dass daraus von einem Kruzianer Videos ins Internet gestellt würden, die an faschistische Aufmärsche erinnerten. Chor- und Schulleitung haben darauf umgehend sehr offensiv reagiert – über inzwischen erfolgte Maßnahmen hüllt man sich in der Dornblüthstraße allerdings in unerklärliches Schweigen.

Die erste gute Nachricht des Jahres: Der Opernball durfte abgesagt werden. Wer sich darüber gefreut hat, wurde freilich mit der Situation freiberuflicher Künstlerinnen und Künstler konfrontiert, die nun quasi vor dem Nichts standen. Lehrkräfte, die nicht mehr unterrichten durften und sich stattdessen als Pizzabäcker oder Fahrradbote verdingten.

Die ebenso einfallsreiche wie ruhelose Sängerin Sarah Maria Sun brachte unterdessen ihr wundervolles Kinderbuch »Heini« heraus. Ein mutvoll engagiertes Stück hübsch bebilderter Literatur über Anpassung und Ausgrenzung, das eine breite Leserschaft verdient.

Das Musikjahr 2021 setzte sich fort mit weiteren Absagen. Die Osterfestspiele Salzburg durften pandemiebedingt abermals nicht stattfinden. Da war schon längst klar, dass sie nicht mehr sehr lange in sächsischen Händen liegen würden. In Sachsen entspann sich ein Rechtsstreit, ausgetragen vor Gerichten in Dresden und Chemnitz, der über die Proben- und Arbeitsmöglichkeiten der Sächsischen Staatskapelle entscheiden sollte.

»Theiler versus Thielemann« war ein gern strapazierter Kurzzeiler in diesen Tagen. Doch der Riss ging quer durchs Orchester, durch den Staatsopernchor und ebenso durch sämtliche weiteren Abteilungen des Hauses. Bei der Dresdner Philharmonie mag das nicht sehr viel anders gewesen sein, klang aber doch einigermaßen harmonischer. Nahezu einvernehmlich, weil man am gleichen Strang im Sinne von Kunst und Kultur ziehen wollte.

Dasselbe galt auch hinter den Mauern der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber. Dort wurde Ende April erfolgreich an Händels »Alcina« geprobt – Dresden hatte endlich mal wieder eine Opernpremiere! Wenn auch nur am Kleinen Haus und vor abgezählt maskiertem Publikum. Rektor Axel Köhler äußerte sich allerdings mit deutlichen Worten als Fürsprecher von Kultur und kultureller Bildung im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Vor den Toren der im Elbtal liegenden Stadt wollten die Landesbühnen Sachsen nicht im Stillstand versinken, das wäre gegen jedweden Impetus von Intendant Manuel Schöbel gewesen. Der verkündete so offensiv wie optimistisch all seine Vorhaben. Was daraus wird, steht in den Sternen, den Viren.

Dort wird wohl irgendwann auch einmal nachzulesen sein, was die aus Annaberg-Buchholz stammende Betriebswirtin Barbara Klepsch in ihrer Überforderung als sächsische Staatsministerin bewogen haben mag, die Streithähne Theiler und Thielemann perspektivisch aus ihren Ämtern zu hieven. Die C.D.U.-Politikasterin zeichnet neben Kultur (was wird das in ihren Augen wohl sein?) auch für Tourismus zuständig – was für ein „Zu-Stand“: Thielemann am Pult der Staatskapelle ist ein Magnet des Kulturtourismus! Das hätte der Frau Ministerin mal jemand zustecken sollen.

Flugs entspann sich dezidiert eine Sendereihe bei MDR Kultur und MDR Klassik, in der kompetente Experten über die Kurzsichtigkeit der sächsischen Kulturpolitik debattiert hatten.

Während sich weitere Absagen im Musikjahr 2021 abzeichneten – die Internationalen Schostakowitsch-Tage Gohrisch würden auch dieses Jahr wieder nicht plangemäß stattfinden -, bastelte die Sächsische Staatskapelle an ihrem ersten Auslandsgastspiel seit Pestbeginn. Zwei Konzerte im Wiener Musikverein, sie fanden am 5. und 6. Juni tatsächlich statt! Frenetischer Jubel, hinter allseitiger Maskierung lauthals hervorgeklatscht, ließ durchaus die Hoffnung aufkeimen und wachsen, dass die tiefsten Täler der Kulturabstinenz nun wohl durchschritten seien.

Zumal bald darauf auch die Dresdner Musikfestspiele ein ziemlich spontanes Notprogramm im Stallhof des einstigen Residenzschlosses ausrichten konnten, einen gewagten Mix aus ernsthafter Kammermusik und frivolem Fado. Nahezu zeitgleich wurde ans 200. Jubiläum des »Freischütz« von Carl Maria von Weber erinnert; die öffentliche Anteilnahme hielt sich verständlicherweise in Grenzen. Doch Myung-Whun Chung konnte wenig später die 9. Sinfonie »Aus der Neuen Welt« von Antonín Dvorák dirigieren, im Kulturpalast folgte ein Sonderkonzert zu den Internationalen Schostakowtisch-Tagen, die aufgrund der Inzidenzlage in der Sächsischen Schweiz diesmal nicht in Gohrisch, sondern im Festspielhaus Hellerau realisiert worden sind. Namhafte Gäste – das Quatuor Danel, das Borodin Quartet, die kapelle 21 sowie Gidon Kremer, Dmitry Masleev und Yulianna Avdeeva – waren vertreten.

Vor dem regulären kulturellen Sommerloch gestatteten sich einige Bühnen noch ein kurzes Aufbäumen, so brachte die Semperoper auf der Konzertstätte Weißer Hirsch Mischa Spolianskys Revue »Wie werde ich reich und glücklich?« heraus, ließen die Landesbühnen Sachsen »Annie Get Your Gun« in einem Zelt am Elbufer zu Rathen von der Leine und wagte die Oper Leipzig mit »Paradiese« von Gerd Kühr gar eine Uraufführung.

Zu den Salzburger Festspielen gab es ein Wiedersehen mit der bereits erwähnten Sarah Maria Sun in Luigi Nonos Großwerk »Intolleranza«, tags drauf war Anna Netrebko im Titelpart von Puccinis »Tosca« zu erleben. Zurück in Sachsen, wurden wir mit einer weiteren bewundernswerten Künstlerin konfrontiert: Katharina Bäuml ließ es sich nicht nehmen, als Artist in Residence schon zum Pressegespräch in Dresdens Schloßkapelle aufzuspielen. Ein famoser Jahrgang sollte folgen, um auf das Schütz-Jahr 2022 einzustimmen.

Plötzlich überschlugen sich allenorts Ankündigungen zur neuen Spielzeit, würzten die Dresdner Sinfoniker mit einer »Elbkarawane« den Spätsommer und wagten sich die großen Häuser an den künstlerischen Neustart. »Weißes Rössl« an der Staatsoperette, »Antichrist« in Leipzig und »Norma« an der Semperoper. Ahnte da wirklich noch niemand, wie teuer uns der alle anderen Themen verschlafende Bundestagswahlkampf zu stehen kommen wird?

Noch kamen Neuproduktionen wie »Don Carlo« in Dresden sowie »Tristan und Isolde« in Chemnitz heraus, gab es Konzerte und konnten mit einer dicken Träne im Auge die Osterfestspiele Salzburg nachgeholt werden. Das Mozart-Requiem zum Auftakt hätte als Omen aufgefasst werden können. Thielemanns Wagner-Abend namens »Winterstürme« fegte alle Ängste kraftvoll fort und ließ tatsächlich auf bessere Zeiten hoffen. Doch ach, das an drei Abenden sehr unterschiedlich gegebene Sinfoniekonzert unter Lorenzo Viotti und mit Capell-Virtuos Antoine Tamestit klang schon beinahe nach Abgesang. Denn gleich darauf wurde die ersehnte Wiederaufnahme des Operndoppels »Cavalleria rusticana« / »Pagliacci« kurzfristig abgesagt. Und nur einen Abend später kam das Aus: Ein sichtlich betretener Intendant Peter Theiler musste das Publikum von »La Cenerentola« aufgrund von Positiv-Tests in den Ensembles unmittelbar vor Vorstellungsbeginn des Hauses verweisen.

Danach verkündeten die Staatstheater die Einstellung des Spielbetriebs. An der Oper Leipzig durften noch »Die Meistersinger« gegeben werden, dann wurden alle Kulturstätten Sachsens geschlossen, selbst die Museen. Dass selbst in dieser Situation Dresdens weitsichtiger Oberbürgermeister noch unbedingt an seinem Weihnachtsmarkt festhalten wollte, klingt aus heutiger Sicht reichlich unglaubwürdig. Aber Dresden feierte sich auch auch gerade wieder als Austragungsort eines Ski-World-Cups! Ein paar Eigentore müssen in dieser Stadt zwangsläufig sein.