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Pünktchen, Pünktchen, Komma, Strich

von Dr. Gabriele Schneider

Das Carl-Maria-von-Weber-Haus in Hosterwitz ist bekanntermaßen das einzige authentische Gebäude, das mit dem Leben des Komponisten verbunden ist. Weber hatte es ab 1818 in den Sommermonaten bewohnt. Die neue Museums-Leiterin, die Dresdner Sängerin Romy Petrick, lässt es sich nicht nehmen, 200 Jahre nach der Uraufführung des »Freischütz« in Berlin durch vielerlei Aktivitäten auf dieses bedeutsame Jubiläum hinzuweisen und das idyllische Museum wieder mehr in das öffentliche Interesse zu rücken. Dazu gehören eine Sonderausstellung »200 Jahre Freischütz. Deutsche Nationaloper oder romantische Gruselstory?« sowie mehrere Vorträge, die das Thema »Freischütz« aus verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und die zu einem Sammelband »200 Jahre Freischütz« beim Donatus-Verlag zusammengefasst werden. 

Am 3. Oktober hielt Dr. Reiner Zimmermann, bis 1985 Lektor im Musikverlag Edition Peters Leipzig, von 1991 bis 2003 Leiter der Abteilung Kunst im Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und seit Jahren auch kundiger Musik-in-Dresden-Autor, einen Vortrag unter dem merkwürdigen Titel »Pünktchen, Pünktchen, Komma, Strich – Klassische Aufführungspraxis in Webers Freischütz«. Der Vortragende hatte 1976, wie er anschaulich berichtete, als Lektor eine Neuausgabe der Partitur dieser Oper nach dem Autograph Webers, betreut und war ebenso wie der Herausgeber, der Berliner Dirigent Joachim Freyer, erstaunt über die vielen Unterschiede, die sich zwischen Webers Urschrift und den später erschienenen Druckausgaben ergaben. 

Sein Fazit: Weber war um 1810 in der klassischen Tradition der Mannheimer Schule bei Abbé Vogler ausgebildet worden und notierte in diesem Sinne, während die Druckausgaben 23 bzw. 41 Jahre nach Webers Tod erschienen. Zu dieser Zeit waren die Gepflogenheiten der klassischen Aufführungspraxis nicht mehr bekannt – wie zum Beispiel das System der Staccato-Striche, das von den Streichern bestimmte Auf- und Abstrich-Kombinationen verlangt – daher auch der Titel des Vortrages. Anhand von Notenbeispielen aus den Quellen wurde deutlich, wie unterschiedlich letztlich die musikalische Interpretation von den gedruckten Noten abhängig ist. An vielen Beispielen wurde deutlich, wie fehlende oder hinzugefügte Artikulationszeichen die musikalische Praxis seit Jahrhunderten prägt bzw. verändert.

Am eindrucksvollsten zeigte sich dies in der Wolfsschluchtszene, als Samiel „unter dumpfem Donner“ verschwindet. Weber hat diesen Abgang regelrecht mit Instrumenten inszeniert. Tiefe Hörner, Fagotte im fortissimo, alle Streicher in tiefer Lage, tremolo, fortissimo, und dann die Posaunen, im Autograph auf drei Systemen mit po, also piano notiert. Eine 1867 veröffentlichte Partitur korrigiert eindeutig die Posaunen in fortissimo – man kann den Korrekturvorgang auf der Bleiplatte nachvollziehen. Mit diesem Fortissimo übertönen die drei Posaunen alle anderen Instrumente. Weber hatte aber an die Naturposaunen gedacht, die möglicherweise etwas unsauber klangen, um den dumpfen Ton der übrigen tiefen Töne zu unterstützen. Im Material, aus dem die Staatskapelle Dresden seit 1950 spielte, ist in den Posaunen das gedruckte ff handschriftlich durch p ersetzt. So zeigte sich sehr anschaulich, dass dieses Thema durchaus ganz praktische Konsequenzen für die Aufführungspraxis erkennen ließ und nicht ein theoretischer Trockenkurs war. Deshalb habe der »Freischütz« eine ebenso sorgfältige musikalische Interpretation nach den Quellen verdient, wie sie heute bei den Werken des Barock oder der Klassik selbstverständlich ist.

Reiner Zimmermann erläuterte auch, welche besondere Stellung der »Freischütz« in der damaligen internationalen Opernszene hatte: Nach den gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen im Gefolge der Napoleonischen Kriege genügte das dramma per musica des 18. Jahrhunderts nicht mehr den Vorstellungen der Komponisten und des Publikums des frühen 19.Jahrhunderts. Die Dramatik des Lebens fand sich auch in den Libretti wieder, wie z.B. Beethovens »Fidelio« zeigte. Friedrich Kind hat die italienischen und französischen Anregungen aufgenommen und in einen spezifisch deutschen Kontext gestellt. Statt finsterer Verließe der französischen Revolutionsopern spielt der »Freischütz« im bedrohlichen deutschen Wald. Weber hat auf geniale Weise diesen Wald zum Klingen gebracht, der nach Elias Canetti ein deutsches Symbol ist. Hieraus erwuchs wohl die Vorstellung, das Werk tauge als deutsche Nationaloper. Das hat jedoch nichts mit Nationalismus zu tun, gegen den manche heutigen Regisseure meinen angehen zu müssen. Aber das ist ein anderes Thema.