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Zwischen Rößl und Rousseau

„Willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“: Laila Salome Fischer (Josepha Vogelhuber) und Christian Grygas (Leopold Brandmeyer). Alle Fotos: Pawel Sosnowski

Wir könnten uns es jetzt natürlich einfach machen. Einen elegischen Blick über die rechte Schulter werfen, zurück zu Erik Charells opulenter Inszenierung vor neunzig Jahren im Großen Schauspielhaus zu Berlin, bei der gut siebenhundert (!) Mitwirkende auf und hinter der Bühne vor dreitausendfünfhundert Zuschauern über vierhundert ausverkaufte Vorstellungen abschnurren ließen. Und lamentieren, dass dergleichen opulente Vergnügungs-Orgiasmen – bei aller „Sehnsucht nach Illusion“ (Judith Wiemers im Programmheft) heute einfach nicht mehr möglich seien.

Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will; es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen.
Jean-Jacques Rousseau: »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen«

Was uns zu der interessanten Frage bringt, warum das »Rößl« eigentlich heute noch auf die Bühne der Staatsoperette gehört. Um sie drücken sich eigentlich alle Autoren und Interviewpartner des Programmheftes herum. Der Dirigent Johannes Pell nennt das Stück ein „handwerklich perfektes und zeitloses Meisterwerk“ – was es bei genauerem Nachdenken gerade nicht ist. Und der Regisseur Toni Burghard Friedrich, nach der Relevanz des Stücks für die Gegenwart befragt, flüchtet sich in Allgemeinplätze:

„Hier sind die Probleme aller Agierenden ganz alltäglich und dadurch für jede*n nachzuempfinden. Es geht um Arbeit, um Hierarchien, soziale Unterschiede, um – gerade ganz aktuell – den Konflikt zwischen Fernweh und Zuhausebleiben […] Obwohl das ‚Rössl‘ eine Komödie ist, die von Übertreibung lebt, sind wir oft sehr nah an einem Alltag, den auch wir so kennen.“

Schnoddrig-großmäulig, bald desillusioniert: Christian Grygas als Oberkellner mit Spielverpflichtung

Zwischen den Zeilen ahne ich dennoch die zeitlose rezeptionsästhetische Fragestellung. Warum wir das »Weiße Rößl« heute, da es seiner primären Funktionen als Ventil und Vergnügungsvehikel weitgehend verlustig gegangen ist, überhaupt noch aufführen sollten? Resultiert das Vor-Augen-führen touristischer Sehnsüchte und moralischer Irrungen und Wirrungen, mehr noch, der Prozess des Unterlaufens von Erwartungshaltungen durch geschicktes Strippenziehen des Regisseurs („Wir haben ganz bewusst Bildwelten gewählt, die unsere Zuschauer*innen von einer ‚Rössl‘-Inszenierung erwarten – auch, um sie dann durch den Kneipenraum und seine Bespielung immer mal zu hinterfragen und zu brechen“) am Ende in einer Art Läuterung? Ganz so, wie sie die Rössl-Wirtin im Laufe des Abends durchmacht, wenn auch in anti-feministischer Richtung: erst ohrfeigt sie den Oberkellner, der ihr zu nahe tritt, entlässt ihn nach zahllosen Anzüglichkeiten und Aufdringlichkeiten – und erst, als er sich endgültig von ihr abgewendet hat, schreibt sie ihm ein Arbeitszeugnis, in dem sie ihm devot die Rolle des Ehemanns anbietet. Na herrlich.

Die Illusionen fransen aus

Warum die Inszenierung dennoch nicht zündet? Es liegt, denke ich, an ihrer Unfähigkeit, das quid-pro-quo mit dem Werk einzugehen: die „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ (Samuel Coleridge) wird vom Publikum gar nicht mehr eingefordert, sondern arglistig unterlaufen. Wir, die Zuschauer, möchten im »Rössl« unterhalten werden und sind dafür willens, uns auf alle möglichen Illusionen einzulassen, die uns die Inszenierung, mal grandios, mal durchschaubar, anbietet. Deswegen ist es doch auch egal, ob die Rössl-Hits wie „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist“ von einem hundertköpfigen Orchester oder einer siebenstimmigen Band (die im übrigen wunderweich und perlend, fast zu glatt musiziert) begleitet werden.

Aber der Regisseur und einige Akteure auf der Bühne vertrauen diesem Kontrakt nicht mehr. Wie hartherzige Puppenspieler entziehen sie uns das Stück immer wieder und holen uns damit auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Rolle des Oberkellners Leopold Brandmeyer etwa, die Christian Grygas uns gibt, wird im Laufe des Stücks immer löchriger – die Illusion franst aus. Er selbst scheint gar nicht so genau zu wissen, weswegen er den „Boss“ [sic] eigentlich begehrt: schnoddrig macht er der Wirtin den Hof, mault über mangelnde Liebe ihrerseits, macht sich irgendwann wie hypotisiert als lila Törtchen im „Österreich-O-Mat“ zum Affen und küsst seine angebetete Josepha am Ende ohne echte Leidenschaft. Graut ihm da schon vor dem zukünftigen Leben als Mädchen für alles in einer abgefuckten Berliner Bahnhofskneipe?

„Das muss man ganz erst nehmen, sonst verdoppelt sich das ja. […] genau so, wie’s da steht.“ (Otto Sander).
„Wenn ich damit was ankreiden oder aufdecken oder brechen will, dann mach ich nicht dieses Stück.“ (Ursli Pfister)

So wunderschön uns dieser Raum von René Fußhöller und Antonia Kamp als Idee auf die Drehbühne gestellt ist (erschrockene Seufzer des Publikums beim ersten Öffnen des Vorhangs!), so sehr knackt und knarzt die Übertragung eines Hotels zur Hochsaison, an dessen Pier die zahlungskräftige und vergnügungswillige Kundschaft mit jedem neu ankommenden Dampfer angespült wird, in eine gähnend leere Urberliner Kiez-Szene mit allen ihren traurigen Nachtgestalten letztendlich. Es ist nicht recht erklärlich, warum in diesem müden Etablissement plötzlich Gäste aufschlagen, die in feinste Seidenanzüge gekleidet sind, warum hier Tischdecken auf den Tischen liegen, das Essen unter Gloschen serviert wird und ein Portier die Koffer aufs Zimmer bringt. Warum mimt ein rolliges Liebespaar (Ella Rombouts, in der zweiten Premiere: Paul Kmetsch) zusammenhanglos die beiden Putti der Sixtinischen Madonna (gleich zweimal hintereinander, falls das Publikum das Bild nicht sofort dechiffriert hat)? Auch Personenführung und Textregie schmeißen einen immer wieder aus dem Coleridge’schen Illusionskontrakt: warum nehmen Vater (Markus Liske) und Tochter (Christina Maria Fercher) an verschiedenen Tischen Platz, und warum wird das wunderbare Libretto von Charell und Benatzky an einigen Stellen so unbeholfen modernisiert? Traut der Regisseur dem Stück am Ende doch nicht mehr zu, für uns Heutige relevant zu sein?

Weitere Aufführungen: 14., 15., 17., 18., 19. September; 9., 10. Oktober; 13., 14. November; 18., 19. Dezember 2021