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Notenspuren aus Stacheldraht

Olivier Messiaens »Quatuor pour la fin de temps« kehrt als grandiose Filmeinspielung an den Ort seiner Uraufführung zurück

Von widrigen Umständen ist das »Quatuor pour la fin de temps« schon immer begleitet gewesen. Der Komponist Olivier Messiaen schrieb sein »Quartett auf das Ende der Zeit« unter widrigen Umständen im Kriegsgefangenenlager am Stadtrand von Görlitz, wo es am 15. Januar 1941 in der sogenannten Theaterbaracke uraufgeführt worden ist.

Dass die Entstehungsumstände dieser Jahrhundertmusik just an diesem Ort über lange Zeit so gut wie vergessen geblieben ist, fügt sich als weitere Widrigkeit in die Werkgeschichte ein. Erst nach der Jahrtausendwende wurde dieser Prozess wieder gründlich beleuchtet: Ein musikalisch humanistischer Aufschrei, in einem von deutschen Nazis errichteten und bewachten Lager vollendet und aufgeführt, eine Musik, die nach dem tumben Verständnis der braunen Idiotie als „entartet“ gegolten hätte, und das alles just in einem barbarischen Kriegswinter – welches Kammermusikwerk kann sich mit dieser Art von Historie wohl messen?

Unter – wohlgemerkt ganz anders widrigen – Umständen ist Anfang des neuen Jahrtausends die Erinnerungsgeschichte an dieses Quartett wieder erweckt worden. Jahr um Jahr erklang Messiaens Musik am Datum der Uraufführung in einem eigens dazu errichteten Zelt. Die Atmosphäre der winterlichen Uraufführung ließ sich da allerdings dennoch nur imaginieren, denn wie sich die Kriegsgefangenen aus vieler Herren Länder seinerzeit in den von Stacheldraht umgebenen Baracken gefühlt haben mögen, ist aus heutiger Sicht schlicht unvorstellbar.

Als 2015 an diesem Ort des Leidens nach nur einjähriger Bauzeit das Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur eröffnet werden konnte, war es mit den Widrigkeiten erst einmal vorbei. Dank unermüdlichen privaten Engagements, das ansteckend wirkte auch auf politische Instanzen diesseits und jenseits der deutsch-polnischen Grenze, gab es nun eine Stätte des Gedenkens, die sowohl Erinnerungskultur als auch aufklärerischen Gemeinsinn bot. Und bietet.

Trotz der aktuellen Widrigkeiten einer allgegenwärtigen Pandemie, wegen der die mehr und mehr etablierten Internationalen Messiaen-Tage entfallen beziehungsweise verschoben werden mussten, konnte 2020 eine höchst besondere Aufzeichnung des »Quatuor pour la fin de temps« entstehen. Die Leipziger Produktionsfirma Accentus Music ließ es sich nicht nehmen, vor Ort mit einer hochkarätigen Besetzung aufzuwarten, um Musik und Wort in Einklang zu bringen. Die Geigerin Isabelle Faust, der Cellist Jean-Guihen Queyras, der Klarinettist (und Komponist) Jörg Widmann sowie der Pianist und Messiaen-Kenner Pierre-Laurent Aimard haben das Quartett für eine arte-Dokumentation aufwendig eingespielt und zugleich unter dem Eindruck des Entstehungsortes offenherzig über diese Musik gesprochen.

Der tief empfundene Geist des Humanismus, der aus Messiaens Quartett spricht, hat auch die Quartettbesetzung berührt. Dass der ergreifende und bereits im Kulturkanal von arte ausgestrahlte Film, den Accentus Music gemeinsam mit dem MDR produziert hat, nun auch in Görlitz gezeigt werden konnte, lässt die widrigen Umstände von Entstehung und Uraufführung dieses Werks nicht vergessen, sondern sollte just daran gemahnen.