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Sieben einsame Porträts

Für sieben filmische Porträts der Einsamkeit, die heute Premiere im Netz feiern, hat der Choreograf David Dawson, der auch für Konzept und Regie verantwortlich zeichnet, sieben Orte gewählt; verlassene, aufgegebene, umgewidmete oder nutzlose Orte, mit denen der jeweils einsame Tänzer in beeindruckender Weise korrespondiert.

Sangeun Lee (Foto: Oliver Look)

Da ist Sangeun Lee mit ihrem anfänglichen Blick zurück auf der verlassenen Weite des Rollfeldes eines längst aufgegebenen Flughafens zu sensibler Melodik für Violine und Klavier von Max Richter. Am Ende dieser mitfühlenden Miniatur dieses ersten Porträts der Einsamkeit ein Schimmer der bewegten Hoffnung hin zur fernen Silhouette der Stadt am Rande des verlassenen Platzes mitten in Berlin.

Wo sich sonst die Wege eilender Menschen kreuzen, wo im Tempo des Alltages die Geschäftigkeit des Alleinseins vorherrscht, im jetzt menschenleeren, unterirdischen Raum einer großstädtischen U-Bahnstation, eilt der Tänzer John Vallejo zum Klangsound von Peter Gregson kraftvoll an gegen diese beängstigende Einsamkeit. Die Kamera kommt dem Tänzer ganz nahe, um ihn dann wieder in den einsamen Abstand zu entlassen. Als wolle er einem Labyrinth entfliehen, stürmt der Tänzer auf der leeren Treppe neben den Rolltreppen im Stillstand in die Höhe. Sein letzter Sprung führt in ungewisse Dunkelheit.

(Screenshot)

Von berührender Symbolkraft ist der einsame Tanz Aidan Gibsons zu den fernen, erinnernden Klangflächen von Greg Haines. Die Tänzerin, ganz bei sich selbst, in einem verlassenen Ballsaal, hinterlässt ihre Spuren erinnernder Bewegungen auf dem verstaubten Parkett des um seiner lebendigen Tanzseele beraubten Saales. 

In gefühlter, himmelsnaher Höhe, über der Stadt, auf Dach und Terrasse des Dresdner Kongresszentrums zu Klavierklängen von Szymon Bróska, tanzt Alejandro Martinez in so kraftvoller wie wiederständiger Einsamkeit. Mitunter wirkt es so, als gäbe es keinen konkreten Raum in dieser Höhe, in diesem abgehobenen Nirgends einer Stadt, die so nah und so fern zugleich erscheint.

Und immer wieder – so typisch für die choreografischen Metaphern von David Dawson – die Führung der Arme und Hände in die Höhe, als berührten sie unsichtbare Welten oder schmiegten sich an die nur für sie im Moment des Tanzes wahrnehmbaren schützenden Umhüllungen spürbarer Zuneigungen, von denen ja diese so zerbrechliche Kunst der augenblicklichen Vergänglichkeit wie der Tanz eben lebt.

Dawson lässt mit seinen Bewegungen auch immer wieder Momente rituellen Ursprunges des Tanzes aufblitzen. Seine Eindringlichkeit der wortlosen Sprache belegt eindrücklich die These der Tanzwissenschaftlerin Dorion Weickmann, dass der Tanz die Muttersprache der Menschheit sei.

David Dawson (Foto: Oliver Look)

Akzente solcher Art setzt das Solo der Einsamkeit von Courtney Richardson zu Musik des Meisters einsamer Klänge, Gavin Bryers.

Dazu die Symbolkraft des Ortes, der äußere Eingangsbereich einer Dresdner Kirche, die zur Hälfte längst ihrer einstigen Bestimmung entwidmet ist. Aber gerade hier haben die hoch geführten Hände der Tänzerin besondere Symbolkraft, von starker Berührung bei versunkenem Ausdruck die wiegenden Bewegungen der Hände, als hielte sie ein Kind. Und doch, das verdankt sich dem kraftvollen Ausdruck der Tänzerin, wird die Einsamkeit nicht den Sieg davon tragen. Es gilt, diese Momente anzunehmen und daraus letztlich auch Kraft zu beziehen.

Mit der Kraft seiner tänzerischen Bewegung widersetzt sich der Tänzer  Houston Thomas der erschreckenden Leere einer derzeit nicht genutzten Messehalle. Erstaunlich, wie dennoch, im Zusammenklang Musik von Robin Rimbaud-Scanner mit dem raumerobernden Tanz, die  räumliche Leere belebt wird.

Hier erschließt sich eben auch der assoziative Ansatz der Choreografien, nämlich aller räumlichen, äußeren Leere und aller Bildhaftigkeit materieller Einsamkeit, die Kraft menschlicher Einsamkeit entgegen zu setzten. Ja, das mag widersprüchlich klingen, ist aber mit den horizonterweiternden Möglichkeiten des Tanzes im Dialog mit Klang und Raum durchaus nachvollziehbar.

Einen besonderen Akzent setzt Alice Mariani zur Musik von Alex Baranowski im leeren Dresdner Opernhaus. Die kraftvolle Dynamik ihres Tanzes durchbricht diese Leere. So ist es in aller Einsamkeit dieses Solos ein Zeichen von Hoffnung, wenn sich die Tänzerin, während Klang und Licht verlöschen, dem hier noch nicht anwesenden Publikum zuwendet. Sie drückt aus, dass es vielleicht mitunter der Einsamkeit bedarf, um immer wieder jene Kraft zu erwerben, mit der es besonders im wortlosen Tanz gelingen kann, Menschen für Momente aus den Einsamkeiten der Alltäglichkeit zu befreien.

Alice Mariani in »Raymonda Variation« (Foto: Ian Whalen)

David Dawson sagt, er wolle mit diesem Projekt „eine Botschaft der Hoffnung senden“. Das gelingt ihm. Zudem gehe es ihm auch darum, unbedingt nötige Hilfen für Künstlerinnen und Künstler zu leisten. Daher finden sich auf der Seite seines Projektes auch entsprechende Adressen möglicher Ansprechpartner und Organisationen. So kommen mit diesen sieben Soli der Einsamkeit viele Möglichkeiten zusammen, mit Einsamkeiten umzugehen, ohne daran zu zerbrechen.

Heute feiert David Dawsons choreografisches Filmprojekt seine Onlinepremiere, zu sehen ab 18 Uhr auf der Seite des Choreografen.

Ein symbolischer Zufall vom Feinsten: Wenn sich in der heutigen Onlineuraufführung »7 PORTRAITS OF SOLITUDE – 7 Films by David Dawson« am Ende die Dresdner erste Solistin Alice Mariani im siebten Solo der Einsamkeit im leeren Opernhaus vom nicht vorhandenen Publikum verabschiedet, so wird sie ab morgen in der »Semper Essenz«-Gala der Semperoper in Variationen aus den klassischen Balletten »Raymonda« und »Paquita« in den Originalchoreografien von Marius Petipa zu erleben sein.  

»7 PORTRAITS OF SOLITUDE – 7 Films by David Dawson«, Weltpremiere, heute ab 18.00 Uhr

»Semper Essenz: We will dance!« – Gala des SemperoperBallett
Premiere morgen, 18.09., 19.00 Uhr.
Weitere Vorstellungen: 20., 25. September; 1., 4., 16., 18., 25. Oktober