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Offener Brief: 96 ehemalige Kruzianer kritisieren Entscheidungen des Chormanagements

Als „sehr befremdlich“ empfinden knapp einhundert ehemalige Kruzianer die Disziplinierung ihrer fünf jungen Chorkollegen, genauer: die Argumentation des Chormanagers Uwe Grüner, man habe hier nicht anders handeln können, da durch die Abwesenheit der Jungs bei Chorproben Verträge mit dem Profiensemble verletzt worden seien. In der Tat hat sich, wie auch die Unterzeichnenden eines „Offenen Briefes“ an Kreuzkantor Kreile es formulieren, das Verständnis, um was für ein Ensemble es sich beim Dresdner Kreuzchor eigentlich handelt, in den letzten Jahren offenbar grundlegend verändert. Ganz offensichtlich tritt dieser Wertewandel von einem im Kantoreigesang verwurzelten Chor hin zu einem quasi-weltlichen, jedenfalls vorrangig kommerziell orientierten Knabenchor in der neuen Marketing-Strategie des Chores zu Tage, die im Wesentlichen ein neuer Mitarbeiter des Dresdner Kreuzchors verantwortet: Thomas Reiche.

Die Redaktion von »Musik in Dresden« hat Reiche unlängst über die Öffentlichkeitsabteilung des Chores einen Fragenkatalog mit der Bitte um Beantwortung vorgelegt. Unsere Fragen drehen sich um die Finanzierung des Chormarketings, um die Abstimmungsregularien mit Kreuzkirche und Kreuzschule, um die Rolle des Chors als „Markenbotschafter“ und ganz allgemein um Reiches Perspektive für Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring und Marketing. Wir erhoffen uns dadurch auch die Klärung einiger der Fragen, die die 96 Kruzianer aufgeworfen und in ihrem Brief an den Kreuzkantor formuliert haben. Bis dahin sei schon einmal der Offene Brief selbst abgedruckt, in der Fassung, die heute auch an Vertreterinnen und Vertretern der Kreuzschule, der Kreuzkirche, des Fördervereins, der Stiftung Dresdner Kreuzchor, der Stadt Dresden, an Eltern sowie die Presse verschickt wurde.


Sehr geehrter Herr Kreile,

mit Bestürzung haben wir die Nachricht aufgenommen, dass mehrere Mitglieder der derzeitigen zwölften Klasse von der diesjährigen Sommerreise ausgeschlossen wurden und aus diesem Grund weitere Zwölftklässler die Teilnahme an dieser Reise verweigert haben. Vielen ehemaligen Kruzianern ist diese Nachricht sehr nahe gegangen, weil wir aus eigener Erfahrung um den hohen Stellenwert der letzten Chorreise für die Kruzianer der zwölften Klasse wissen. Zum einen ist sie der krönende Abschluss der Zeit als Kruzianer, zum anderen aber auch ein wichtiger Schritt, um Abschied zu nehmen und langsam loslassen zu können. Dass dem Jahrgang 2017 dieses wichtige Schlüsselerlebnis fehlen wird, hat unter uns ehemaligen Kruzianern zu intensiven Diskussionen über die Frage geführt, wie es soweit kommen konnte. Dabei wurde deutlich, dass über den konkreten Anlass hinaus sehr viele ehemalige Kruzianer die jüngere Entwicklung des Chores mit Sorge betrachten.

Foto: Götz Walter

Aus Gesprächen mit den betroffenen Kruzianern und Abiturienten der letzten Jahrgänge, aber auch mit Eltern und Vertretern von Institutionen im Umfeld des Chores haben wir den Eindruck gewonnen, dass seit einiger Zeit zunehmend Spannungen sowohl innerhalb des Chores, als auch zwischen dem Chor und seinem engen Umfeld bestehen. Als ehemalige Kruzianer glauben wir, mit etwas Abstand einen objektiveren Blick auf die Problemkonstellationen zu haben. Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschlossen, diesen offenen Brief zu verfassen, dessen Motivation die Sicherstellung und Verbesserung des Wohls der aktiven Kruzianer ist und mit dem das Angebot zu einem gemeinsamen Gedankenaustausch und Gesprächen verbunden ist, für die wir gern zur Verfügung stehen.

Die Frage nach der richtigen Balance zwischen der Aufrechterhaltung der hohen musikalischen Qualität zum einen und der Förderung der individuellen Persönlichkeits- entwicklung der Kruzianer zum anderen begleitet den Chor schon seit langem. Kruzianer haben durch tägliche Probenarbeit sowie regelmäßige Auftritte und Reisen wesentlich weniger Zeit zur Bewältigung ihres schulischen Pensums und dem Besuch sonstiger schulischer Veranstaltungen zur Verfügung, als ihre Mitschüler. Hier ist es bis heute nicht gelungen, gemeinsam mit der Kreuzschule eine nachhaltige Lösung zu finden, um diesen Nachteil auszugleichen. Gerade als ehemalige Kruzianer, die nun mitten im Leben stehen, wissen wir aber auch, wie wichtig es ist, dass die Kruzianer neben dem Chorleben auch Kontakte zu ihren Mitschülern aufbauen, um so eine ganzheitliche persönliche und soziale Kompetenz entwickeln zu können. Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass diese Problematik nicht nur weiterhin ungelöst ist, sondern sich sogar zu vergrößern scheint.

Die Auftritte des Chores mögen sich, abgesehen von einer deutlichen Steigerung während des Jubiläumsjahres, von der Anzahl her insgesamt nicht erhöht haben. Sie haben sich aber verändert. Der Chor nimmt vermehrt Termine außerhalb des gewohnten Rahmens von Vesper und Gottesdienst wahr. Diese irregulären Termine stellen eine zusätzliche Belastung für die Kruzianer dar, da sie den Alltag noch stärker zerreißen und eine gesunde Entwicklung, die von Regelmäßigkeit lebt, erschweren. Problematisch ist etwa, wenn die jüngeren Knaben bis spät in die Nacht an Veranstaltungen teilnehmen müssen und keine ausreichenden Ruhezeiten zwischen Veranstaltungen gewährleistet werden können. Auch die Häufigkeit größerer Auslandsreisen hat zugenommen. Auslandsreisen, insbesondere ins außereuropäische Ausland, waren auch während unserer Kruzianerzeit immer ein besonderes Erlebnis.

Als problematisch empfinden wir jedoch die Aussage des Chormanagers Uwe Grüner, der Kreuzchor sei „kein Freizeitensemble, sondern ein Profiorchester“, das sich auf dem Weltmarkt behaupten müsse. Diese Aussage passt zu einem in der letzten Zeit zu beobachtenden Wandel des Selbstverständnisses des Chores, der wohl in erster Linie auf eine Restrukturierung im Chormanagement zurückzuführen ist.

Dies zeigt sich auch darin, dass in den letzten Jahren die Außendarstellung des Chores stark verändert wurde und eine zunehmende Vermarktung des Chores als Werbeträger für diverse Unternehmen stattfindet. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass wir nicht um die finanziellen Zwänge wissen, denen große Kultureinrichtungen ausgesetzt sind. Auch entzündet sich die Kritik keineswegs an der generellen Verwendung von sozialen Medien oder dem Einsatz technischer Mittel, um Außenstehenden einen Einblick in das Chorleben zu gewähren. Es stellt sich jedoch die Frage, was für Botschaften man hier verwendet und in welchem Maße man sie sich zu eigen macht. Ein unreflektierter Umgang mit Themen wie Konsum und Kommerz verträgt sich nicht mit einer christlichen Werteerziehung, die zum Selbstverständnis des Kreuzchores gehört.

Als sehr befremdlich empfinden wir auch die von der Chorleitung in der aktuellen Diskussion um den Ausschluss der Abiturienten vertretene Position, die Kruzianer wären aufgrund von bestehenden Verträgen zur Erbringung ihrer Leistung verpflichtet. Das Bild, das hier gezeichnet wird, unterscheidet sich grundsätzlich von unserem Verständnis des Kruzianerseins und erinnert weniger an eine auf christlichen Werten beruhende Chorgemeinschaft, als vielmehr an ein gewinnorientiertes Unternehmen, das versucht, seine Mitarbeiter zu disziplinieren. Eine derartige Sicht verbietet sich jedoch selbstverständlich mit Blick darauf, dass es sich hier größtenteils um Minderjährige handelt.

Das Gesagte kulminiert in der Frage, welche Grundwerte der Chor in seinem Inneren lebt und nach außen transportieren will. Dies, so glauben wir, sollte nicht durch neue Werbe- und Vermarktungsstrategien und ein betriebswirtschaftliches Verständnis diktiert werden. Blicken wir auf unsere Kruzianerzeit zurück, dann bleibt neben der Leidenschaft für die Musik und der erlernten Selbstdisziplin an erster Stelle ein ausgeprägter Sinn für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Darüber hinaus haben wir das Kruzianersein stets als eine Tätigkeit im Dienste einer höheren Sache verstanden. Diese erschöpfte sich nicht im Streben nach höchster musikalischer Qualität. Wir sahen uns vielmehr auch im Dienste der langen Tradition der Institution Kreuzchor und der Werte, für die diese Institution steht.

Foto: Florence Stadelmann

Eine Abwendung von diesem Erbe wird, so befürchten wir, nicht nur zu einer neuen Außenwahrnehmung des Chores führen, sondern die Chorgemeinschaft als dessen Kern beschädigen. Je stärker an diesem Fundament gerüttelt und der Chorgemeinschaft die gemeinsame Wertegrundlage entzogen wird, desto weniger, so steht zu befürchten, wird man von den Kruzianern in der Zukunft erwarten können, über sich hinauszuwachsen und persönliche Opfer für den Kreuzchor und die Bewahrung des musikalischen und institutionellen Erbes zu erbringen.

Der konkrete Sachverhalt, der zum Ausschluss der Zwölftklässler geführt hat, lässt sich von außen letztlich nicht vollständig durchdringen und damit auch nicht abschließend beurteilen. Offensichtlich ist es hier zu Verfehlungen gekommen, die Konsequenzen nach sich ziehen müssen, wobei es sicher möglich gewesen wäre, statt Härte auch Milde und Vergebung walten zu lassen.

Als beunruhigend empfinden wir jedoch, dass auch aus Ihren öffentlichen Äußerungen hervorgeht, dass es bereits im Vorfeld zu Störungen im Verhältnis zwischen der Chorleitung und den Zwölftklässlern gekommen ist. Dies fügt sich ein in ein Gesamtbild von vielfachen Brüchen sowohl innerhalb des Chores, als auch im Umfeld des Chores.

Wir möchten abschließend betonen, dass für uns außer Zweifel steht, dass Ihnen, Herr Kreile, das Wohl der Kruzianer sehr am Herzen liegt. Deswegen vertrauen wir darauf, dass Sie die richtigen Veränderungen zum Wohle des Chores und der Kruzianer einleiten werden.

Hochachtungsvoll
Ihre ehemaligen Kruzianer

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