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Das Ende der Zeit und ein Neuanfang

Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec – das klingt ein wenig nach den Internationalen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch. Liegt ja auch gar so weit davon entfernt. Was kein Zufall ist, denn die Nähe liegt tatsächlich auf der Hand, nicht nur räumlich. An beiden Orten entstanden kammermusikalische Meisterwerke des 20. Jahrhunderts – jeweils mit einem ebenso unüberseh- wie unüberhörbaren Bezug zum Zweiten Weltkrieg.

Im Fall von Gohrisch, wo Dmitri Schostakowitsch 1960 sein 8. Streichquartett komponierte, sollte eigentlich die Musik zu einem Film über das Kriegsende entstehen. Der war da schon 15 Jahre vorbei. Olivier Messiaen aber komponierte sein berühmtes »Quatuor pour la fin du temps« (das „Quartett für das Ende der Zeit“) noch mitten im Krieg! In einem Kriegsgefangenenlager am Stadtrand von Görlitz. Am 15. Januar 1941 ist dieses Quartett in der sogenannten Theaterbaracke des Lagers vor Mitgefangenen aus aller Herren Länder uraufgeführt worden. Die Bedingungen kann man sich heute gar nicht vorstellen. Für Messiaen muss es eine Art Aufschrei gewesen sein, ein Bekenntnis zu Menschlichkeit inmitten von Hass und Gewalt.

Das aktuelle Erinnern daran hat eine Vorgeschichte, die mit dem Namen Albrecht Goetze verbunden ist. Als der Messiaens Quartett gehört hatte, wollte er unbedingt an den Ort, wo diese für ihn „überirdische“ Musik entstanden ist. Albrecht Goetze kam nach Görlitz – und blieb in Görlitz. Was er hier vorfand, war ein vergessenes, zugewachsenes Lagergelände, war eine vergessene Geschichte. In kürzester Zeit hat dieser Mann viele Menschen in Deutschland und Polen von seiner Idee angesteckt, an dieser Stelle einen Ort des Gedenkens zu etablieren, den Meetingpoint Music Messiaen. Gegründet wurde der 2008. Seitdem erklingt Messiaens Quartett hier jedes Jahr am 15. Januar. Jetzt also zum 10. Mal, Anlass genug für die Veranstalter, nun ein veritables Festival ins Leben zu rufen. Nach mehreren Januar-Konzerten im Zelt steht seit 2015 ein festes Gebäude, das Europäische Zentrum für Bildung und Kultur, am Rand des einstigen Lagers. Auch dieser Bau, ein Haus für Konzerte, Begegnungen und Ausstellungen, geht auf Albrecht Goetze zurück und wird von einer polnischen Stiftung und dem deutschen Verein gemeinsam betrieben.

Die dort ausgerichteten Messiaen-Tage, die erstmals weit über Messiaen hinausgehen, beginnen mit einer Uraufführung, einem Symbol dafür, dass hier wiederum Neues entsteht. Die Sinfonietta Dresden führt darüber hinaus Werke von Charles Ives, Isan Yun und das von Anton Webern instrumentierte Ricercar aus Bachs Musikalischem Opfer auf. Alles Werke, die für sich, die für diesen Ort mit seiner leidgeprüften Geschichte sprechen.

Darüber hinaus gibt es noch reichlich Musik, Orgelmusik etwa, die daran erinnert, dass Messiaen sechs Jahrzehnte lang als komponierender Organist an der Pariser Kirche La Trinité tätig gewesen war. Es gibt ein Klavier-Recital von Peter Hill, dem Messiaen-Schüler, -Experten und -Biografen, der von seinen sehr persönlichen Erinnerungen an den Meister berichtet. Es wird an Messiaens Bezug zu Natur- und insbesondere Vogelstimmen erinnert, dazu hält ein Ornithologe einen Vortrag im Görlitzer Senckenberg-Museum, selbstverständlich gibt es auch Führungen über das Lagergelände sowie am Samstag ein Nachtschwärmer-Konzert in der Görlitzer Jakobspassage. Als weitere Uraufführung soll ein Dokumentarfilm zum „Quartett für das Ende der Zeit“ präsentiert werden, den der US-amerikanische Filmer Paul Moon als berührendes Zeugnis über die Geschichte dieser Musik gedreht hat.