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Menuhins Dresdner Spuren

Der 17. April 1929 ist in die Dresdner Musikgeschichte eingegangen: An diesem Tag versetzte der junge Yehudi Menuhin fünf Tage vor seinem 13. Geburtstag das Publikum in der Semperoper in helle Begeisterung. Schon damals eilte ihm ein phänomenaler Ruf voraus – sensationelle Debüts in San Francisco, Paris, New York und wenige Tage vor dem Dresdner Konzert in der alten Berliner Philharmonie. Dort soll Albert Einstein nach dem Konzert verkündet haben: „Nun weiß ich, dass es einen Gott im Himmel gibt.“

Auch in Dresden stellte sich der kleine Yehudi mit gleich drei Violinkonzerten vor – Bach, Beethoven und Brahms. Am Pult der Staatskapelle stand in diesem „Konzert der drei Bs“ der damalige Generalmusikdirektor Fritz Busch, der 1927 auch das Debüt des Wundergeigers in der New Yorker Carnegie Hall geleitet hatte. Er wurde für Menuhin ein väterlicher Mentor. Und er fasste in einem Zeitungsartikel das Besondere des „Wunders“ Menuhin in Worte: „Ich gehe … mit allen Musikern, die ich sprach, einig darin, daß man sich solcher Tiefe der Empfindung, unprätentiöser Einfachheit, Abgeklärtheit und Intensität des Ausdrucks nicht entsinnen konnte, je vorher bei einem zwölfjährigen Knaben erlebt zu haben. Dieser intuitiv restlos erfühlte Stil war das Wunder.“

Menuhin war mehr als ein Wunderkind: Es waren die frühe Reife und sinnliche Unbeschwertheit seines Spiels, seine schon im Kindesalter voll ausgereiften gestalterischen Fähigkeiten, die auch Zeitgenossen wie Bruno Walter und Arturo Toscanini begeisterten. Am 22. April 1916 als Spross einer weißrussischen Rabbiner-Familie in New York geboren, bekam er seit dem fünften Lebensjahr Unterricht von Louis Persinger in San Francisco; später wechselte er zu George Enescu nach Paris – und in den 1930er Jahren zu Adolf Busch, dem großen Geiger und Bruder von Fritz Busch, der seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Basel unterrichtete. Einschneidend war auch die Begegnung mit Eugène Ysaÿe, dem Menuhin 1926 Lalos »Symphonie espagnole« vorspielte. Ysaÿe lobte ihn kurz, bat ihn dann aber, einen A-Dur-Dreiklang über vier Oktaven zu spielen. Menuhin konnte es nicht: Tonleitern und Arpeggien hatte er nie geübt, und diesen Mangel einer frühen fundierten Ausbildung sollte er später bitter bereuen.

Vom Wunderkind zur humanistischen Instanz

Foto: Jack de Nijs für Anefo / Quelle: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=66010539

Doch zunächst spielte er das Violinkonzert von Edward Elgar mit dem 70-jährigen Komponisten am Pult für die Schallplatte ein, eilte weiter von Erfolg zu Erfolg, begab sich 1935 auf eine Welttournee mit 110 Konzerten in 72 Städten – und benötigte danach erst einmal eine Auszeit von eineinhalb Jahren.

Damit kündigte sich die Krise an. Die Zeit des Wunderkinddaseins endete – Menuhin musste erkennen, dass die Unbefangenheit seines Spiels verloren ging, dass er sich die Grundlagen neu beziehungsweise überhaupt erst erarbeiten musste. Doch er resignierte nicht, ganz im Gegenteil: Menuhin arbeitete unentwegt an sich und seinem Musizieren, sein Ton wurde verletzlicher, aber auch inniger. Die erschütternde „Erfahrung des Scheiterns“, die ihm Béla Bartók 1943 mit seiner Solosonate quasi in die Finger schrieb, gehörte von da an „zu den Fundamenten seines Künstlertums“ (Harald Eggebrecht). Aus dieser Erfahrung heraus fand Menuhin in den folgenden Jahrzehnten zu seiner eigentlichen Größe. Er wurde zum Jahrhundertgeiger und – in seiner warmherzigen, immer freundlich bescheidenen Art – zu einem weltweit engagierten Botschafter für Frieden und Humanismus.

Noch während des Zweiten Weltkrieges spielte er über 500 Konzerte zur moralischen Unterstützung der alliierten Soldaten, nach dem Krieg war er der erste jüdische Musiker von Rang, der wieder in Deutschland konzertierte – wofür er nicht zuletzt von Überlebenden des Holocausts heftig kritisiert wurde. Mit Benjamin Britten musizierte er 1945 im befreiten KZ Bergen-Belsen, und immer wieder ging es ihm darum, „die Welt durch Musik zu verbessern“. Auch während des Kalten Krieges baute er mit seiner Musik Brücken der Versöhnung, er konzertierte in der ehemaligen Sowjetunion und spielte mit David Oistrach in Bukarest demonstrativ Bachs Doppelkonzert.

Menuhin verlagerte seinen Lebensmittelpunkt in die Schweiz und nach England, gründete Festivals und eine eigene Violinschule, und er begann zu dirigieren. Daneben beschäftigte er sich mit Yoga, Psychologie und Philosophie. Auch musikalisch blieb sein Wirken grenzüberschreitend: Er musizierte mit dem indischen Sitarspieler Ravi Shankar ebenso wie mit dem Jazzgeiger Stéphane Grappelli. Er gründete Stiftungen und gemeinnützige Einrichtungen wie „Live Music Now“ und „MUS-E“, die sozial Benachteiligte mit Musik in Verbindung bringen und Schüler in ihrer Kreativität fördern sollen. 1985 wurde er für all dies von der britischen Queen in den Adelsstand erhoben, 1992 von der UNESCO zum „Goodwill Ambassador“ ernannt.

Späte Rückkehr nach Dresden

Nach Dresden, der Stadt seines frühen Erfolges, kehrte Menuhin noch drei Mal zurück: 1961 musizierte der Geiger mit der Staatskapelle unter der Leitung des späteren Chefdirigenten Kurt Sanderling im Großen Haus der Staatstheater, dem heutigen Schauspielhaus, erneut das Violinkonzert von Ludwig van Beethoven. Damals zeigte er sich tief betroffen von der noch immer zerstörten Stadt, gleichzeitig aber auch überrascht und erfreut darüber, noch 20 Musiker im Orchester anzutreffen, die sein Debüt im Jahr 1929 mitgestaltet hatten. Dennoch dauerte es wiederum Jahrzehnte, bis er ein drittes Mal mit der Staatskapelle zusammentraf: Am 10. Januar 1989, wenige Monate vor der politischen Wende, kehrte der inzwischen 72-Jährige mit einem Sonderkonzert nach 60 Jahren in die wieder errichtete Semperoper zurück – diesmal allerdings nicht als Violinsolist, sondern als Dirigent. Nach der Aufführung von Mozarts „Jupitersymphonie“ und nicht enden wollendem Beifall bedankte er sich mit dem Wunsch, bald wieder nach Dresden zurückzukehren.
Der sollte sich nach der Wende erfüllen: da gastierte der dann schon über Achtzigjährige noch einmal im Kulturpalast, dirigierte bei der Philharmonie die „Vierte“ von Johannes Brahms und begleitete ein kaum vierzehnjähriges Wunderkind auf den ersten, vorsichtigen Schritten seiner beginnenden Weltkarriere: den jungen Geiger Augustin Hadelich.