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Jetzt wird es ernst

Um es positiv zu formulieren: Die Türkei besinnt sich ihrer Traditionen und rückt ihre Aufmerksamkeit für die Kultur ins Zentrum der gegenwärtigen Politik. Realistischerweise bedeutet das unter der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan: Was Tradition ist, bestimmt, wer an der Macht ist. Welche Kultur ins Zentrum und welche verboten gehört, unterliegt demselben Gesetz. Nach der Posse um Jan Böhmermann hat die Türkei den ARD-Korrespondenten Volker Schwenck, der bei der Einreise keine Akkreditierung vorweisen konnte, als unerwünscht erst festgehalten, dann abgeschoben. Die lupenlose Demokratie hat schnell erkannt, dass sie auf dem Basar der europäischen Flüchtlingshilfe gerade am längeren Hebel sitzt. Und schiebt jetzt noch ein paar Forderungen nach.

Wenn die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union fortgesetzt und auch die EU-Programme weiterhin unterstützt werden sollen, dann solle die Europäische Kommission beziehungsweise die in Brüssel für Kulturprojekte zuständige Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur bitteschön ihre Förderzusage für »aghet – agit« zurücknehmen. So fordert es laut dem Intendanten der Dresdner Sinfoniker, Markus Rindt, momentan die EU-Vertretung der Türkei in Brüssel von der EU-Kommission. Auch solle die Projektbeschreibung nicht mehr im Internet zu lesen sein. Anderenfalls … – siehe oben. Nun könnten die Sinfoniker das als genialen PR-Coup begreifen – und sich über die zusätzliche Aufmerksamkeit für ihr aktuelles Projekt heimlich freuen. Aber diesmal ist es eben einen Tick zu offiziell, die Situation bereits zu verfahren und die zu erwartenden Auswirkungen dieser neuen aghet-Affäre einfach zu groß, um sich darüber zu freuen. Diesmal ist es ernst.

Wogegen sich diese Form der alles und jeden beeinflussenwollenden Kulturpolitik wehrt, ist ein Aufarbeiten von Geschichte, das ist der Versuch des Annäherns von einstigen Gegnern, das ist gelebte Aufklärung und ein deutliches, ein grenzüberschreitendes Zeichen der Versöhnung.

Ein Foto der begleitenden Ausstellung (Frank Schultze)
Ein Foto der Ausstellung »DAS NACKTE LEBEN – Flucht und Vertreibung im 21. Jahrhundert«, die zeitgleich in Hellerau zu sehen ist. Bildtext: „Autonome Region Kurdistan, Duhok: Die Jesidin Shahraban Salah lebt mit ihren Kindern im Flüchtlingslager Kadia. Sie wurde acht Monate von Kämpfern des IS misshandelt und vergewaltigt. Durch den Anwalt Khaleel Alasaat wurde Shahraban mit ihren Kindern befreit.“ (Frank Schultze)

Der Titel »aghet – agit« steht für ‚Katastrophe‘ und ‚Klagelied‘. Die Katastrophe war der Genozid an etwa eineinhalb Millionen Armeniern im Jahre 1915, der bis heute von der Türkei nicht als solcher anerkannt ist. Die Bundesregierung tut sich 100 Jahre nach diesem wissenschaftlich längst aufgearbeiteten Völkermord immer noch schwer mit Formulierungen um die türkische Schuld oder gar die deutsche Mitschuld, hat inzwischen aber deutlichere Worte gefunden. Ein unzweifelhaftes Signal setzte zuletzt der Bundespräsidentwas sofort zu den entsprechenden, erwartbaren Reaktionen führte.

Das Klagelied komponierten Zeynep Gedizlioglu (Türkei), Helmut Oehring (Deutschland) und Surgite Gloriae (Armenien). Es erklang voriges Jahr erstmals im Radialsystem V Berlin und kommt nun auch nach Dresden, ins Festspielhaus Hellerau. Dort musizieren die Dresdner Sinfoniker dann wieder gemeinsam mit Künstlern, die armenische und türkische Wurzeln haben, sowie mit Musikern des No-Border-Orchestra, deren Mitglieder aus den einzelnen Teilstaaten von Ex-Jugoslawien stammen.

Der Schriftsteller Franz Werfel schrieb rüber die mörderischen Geschehnisse von 1915 seinen ergreifenden Roman, »Die vierzig Tage des Musa Dagh«. Der erschien 1933 und wurde bald darauf von den Nazis verboten. In einem Schulpraktikum haben Schüler zweier Dresdner Gymnasien diesen Stoff unter der künstlerischen Leitung von Tom Quaas jetzt für die Bühne umgesetzt. Auch dieses Projekt gehört zu »aghet – agit« und ist durch das türkische Intervenieren gefährdet. Doch Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, ist sich der Richtigkeit seiner Sache sicher. „Jetzt erst recht“ sei das verbindende Motto aller Beteiligten, um »aghet – agit« der breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Geplant waren auch Gastspiele in Belgrad, Istanbul und Jerewan. Inwieweit diese Vorhaben derzeit realistisch sind, darüber kann man nur spekulieren. Im Hellerauer Festspielhaus ist mithin neben der Aufführung gerade eine Fotoausstellung von Christoph Püschner und Frank Schultze zu sehen, von der sich die Schülerinnen und Schüler haben ebenfalls anregen lassen. Das Fotografenduo hat so ziemlich alle derzeitigen Krisenherde der Welt bereist und kann zu jeder Aufnahme eine Geschichte erzählen.

Sollte es tatsächlich so sein, dass dieses Projekt der Dresdner Sinfoniker über die EU-Politik mitentscheiden soll, dann hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer heutigen Dienstreise gleich noch zusätzlich Gesprächsstoff. Aussöhnung ist mehr als ein Lippenbekentnis, und sie kann anstrengend sein. Aber nur so kämen Tradition und Kultur zu ihrem Recht.

 

Die Uraufführung fand im November 2015 im Radialsystem V in Berlin statt. (Foto: Filip Zorzor)
Die Uraufführung fand im November 2015 im Radialsystem in Berlin statt. (Foto: Filip Zorzor)

„Die vierzig Tage des Musa Dagh“ nach Franz Werfel,
29. April 2016, 19 Uhr

»aghet – agit«, Dresdner Sinfoniker,
30. April 2016, 20 Uhr

Zeynep Gedizlioglu, Türkei
Notes from the Silent One
für Streichorchester

Vache Sharafyan, Armenien
Surgite Gloriae
für Viola, Duduk und Streichorchester
Matthias Worm, Viola
Araik Bartikian, Duduk

Helmut Oehring
Massaker, hört ihr MASSAKER!
Melodram für Solo-Gitarre/Stimme, 12-stimmigen Frauenchor und Streichorchester
Marc Sinan, E-Gitarre/Stimme
Dresdner Kammerchor und AuditivVokal
Dresdner Sinfoniker mit armenischen und türkischen Gästen & Mitgliedern des No Borders Orchestra
Dirigent: Premil Petrovic

aghet – agit und Die vierzig Tage des Musa Dagh werden gefördert durch das Creative Europe Programm der Europäischen Union, den Hauptstadtkulturfonds, die Landeshauptstadt Dresden – Amt für Kultur und Denkmalschutz, die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, die Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank, den Fonds Soziokultur und die Bundeszentrale für politische Bildung.

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