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Andris Nelsons wird neuer Gewandhauskapellmeister

Foto: Marco Borggreve
Foto: Marco Borggreve

Orchesterchefs heißen überall auf der Welt Musikdirektor, Generalmusikdirektor, Erster Dirigent, Gastdirigent oder schlicht Chefdirigent. Nur ein einziges Orchester hat einen Gewandhauskapellmeister am Pult zu stehen, natürlich das Gewandhausorchester Leipzig.

Die Traditionen dieses ältesten bürgerlichen Orchesters, das heute mit 185 Musikerinnen und Musikern als weltgrößtes Berufsorchester gilt, reichen bis ins Jahr 1479 und auf die einstigen Stadtpfeifer zurück. Mit dem Einzug der damals noch recht kleinen Kapelle ins Tuchhändler-Messehaus bekam es den Namen Gewandhausorchester – und damit auch den Gewandhauskapellmeister. Der erste war ab 1781 der Komponist Johann Adam Hiller. Er blieb nur vier Jahre im Amt und wurde später Thomaskantor. Die beiden wichtigsten musikalischen Posten, die Leipzig zu vergeben hat, konnten nur sehr wenige Künstler auf sich vereinen. Hiller, mit seiner auch musikschriftstellerischen Begabung, ist das gelungen. Vor allem als Komponist ist er bis heute unvergessen. Seine Nachfolger Johann Gottfried Schicht, ebenfalls ein späterer Thomaskantor, sowie Johann Philipp Christian Schulz und Christian August Pohlenz dürften heute nur noch Musikhistorikern bekannt sein. Der fünfte Gewandhauskapellmeister jedoch, Felix Mendelssohn Bartholdy, ist bis heute der wohl bekannteste Vertreter dieser einmaligen Zunft. Dabei ist er mit nur 38 Jahren verstorben. Als Gründer der nach ihm benannten Musikhochschule hat er indes die Wurzeln für den profunden Nachwuchs des Orchesters gelegt, von denen der Klangkörper bis heute zehrt.

Die – kriegsbedingt – kürzeste Amtszeit hatte Mendelssohns Nachfolger Niels Wilhelm Gade inne. Der Däne gilt ebenfalls nach wie vor als anerkannter Komponist, er war der erste Ausländer in diesem Amt. Wegen des Deutsch-Dänischen Krieges verlor er 1848 den Posten sehr rasch, kehrte aber später zu mehreren Konzerten nach Leipzig zurück. Nach zwölf Jahren unter dem Komponisten Julius Rietz übernahm mit dem Pianisten und Komponisten Carl Reinecke ein weiterer Däne. Anschließend blieb der in Leipzig, Boston und Budapest tätige Dirigent Arthur Nikisch, der bereits vor seinem Amtsantritt die Uraufführung von Bruckners 7. Sinfonie am Leipziger Neuen Theater realisierte, ganze 27 Jahre im Amt, von 1895 bis 1922. Eine so lange Ära sollte nur Kurt Masur, der 16. Gewandhauskapellmeister, wiederholen. Zuvor aber gab es – trotz politischer Wirren – weitere äußerst namhafte Dirigentenpersönlichkeiten am Leipziger Vorzeigeorchester: Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Hermann Abendroth, das waren Legenden, die das Musikleben in schwierigsten Zeiten geprägt haben.

Eine vergleichsweise kurze Amtszeit war nach Ende des 2. Weltkriegs Herbert Albert beschieden. Dessen Nachfolger Franz Konwitschny knüpfte an alte Traditionen an, formte den Klangkörper in legendären Konzerten in der Kongresshalle am Zoo (das alte Gewandhaus war im Krieg zerstört worden), produzierte anhaltend gültige Schallplattenaufnahmen mit ihm und unternahm mit dem Gewandhausorchester große Tourneen, was der Musikstadt Leipzig wieder zum früheren Ruf verhalf. Er blieb bis zu seinem frühen Tod während einer Konzertreise im jugoslawischen Belgrad im Amt. Legendär war auch die Ägide von Václav Neumann. Nach zwei Jahren Vakanz übernahm der gebürtige Tscheche 1964 diesen Posten, legte ihn aber nach der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968 wieder ab, ging nach Prag, später nach Stuttgart und Wien. Auch mit ihm sind zahlreiche Rundfunk- und Plattenaufnahmen entstanden, die bis heute Referenzcharakter haben.

Kurt Masur, der zweite Gewandhauskapellmeister, der wie einst Arthur Nikisch 27 Jahre im Amt blieb, avancierte ebenso zu einem Großmeister bleibender Einspielungen. Mit ihm reiste das Orchester in alle Welt, absolvierte 1974 die erste USA-Tournee und 1980 die erste nach Südamerika – insgesamt rund 900 Tourneekonzerte unternahm das Orchester mit Kurt Masur. Vor allem aber war er in Leipzig präsent, erst in der Kongresshalle, dann im neuen Gewandhaus, das vor allem durch sein Betreiben erbaut und 1981 eröffnet werden konnte. Doch trotz seiner Verdienste wurde der spätere Ehrenbürger von Leipzig, der sich im Wendeherbst 1989 für den friedlichen Wandel einsetzte, 1997 ziemlich unvermittelt von seinem Posten enthoben. Und wurde vom exakt sieben Tage älteren Schweden Herbert Blomstedt beerbt. Der hatte bereits von 1975 bis 1985 als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden im Osten Deutschlands gewirkt und durfte nun bis zum Jahr 2005 die Geschicke des Gewandhausorchesters lenken und leiten. Für seine Verdienste wurden Blomstedt und Masur – der allerdings fast zehn Jahre zuvor – zum Ehrendirigenten des Orchesters erhoben.

Ob diese Auszeichnung irgendwann auch Riccardo Chailly zuteil werden wird, dem 18. Gewandhauskapellmeister? Im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorgängern dürfte er diesen Posten wohl kaum als Lebenswerk verstanden haben, sondern eher als Etappe, als Karriereschritt und Durchlaufstation. Bereits sein Rückzug von der Oper Leipzig, wo er zunächst als Generalmusikdirektor engagiert war, weckte diesen Anschein. Verstärkt wird der nun durch den vorzeitigen Weggang vom Gewandhausorchester. Bis 2020 hatte Chailly seinen Vertrag mit der Stadt Leipzig verlängert, nun aber ruft Mailand, des Maestros Geburtsstadt; zuletzt kam das schweizerische Luzern noch mit hinzu. Was von ihm bleiben wird, das ist die Erinnerung an großartige Konzerte und wird nicht zuletzt der Mahler-Zyklus beim Label Accentus sein, der demnächst noch vollendet werden soll.

Wenn sich Maestro Chailly im nächsten Jahr von Leipzig verabschieden wird, hinterlässt er das Orchester in formidabler Aufstellung. Daran darf nun der 1978 in Riga geborene Andris Nelsons anknüpfen, ein Dirigent, der in jüngster Zeit bereits mehrfach – und stets erfolgreich – mit dem Gewandhausorchester arbeiten durfte. Momentan ist er als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra verpflichtet. Während der Querelen um die Nachfolge Simon Rattles bei den Berliner Philharmonikern verlängerte er seinen dortigen Vertrag bis ins Jahr 2022. Will er das künftig mit Leipzig verbinden? Wie es heißt, haben Boston und Leipzig eine künstlerische Kooperation vereinbart. Der einstige Schüler von Neeme Järvi und Jorma Panula bringt bestes Rüstzeug dafür mit, er startete frühzeitig eine Blitzkarriere, ist aber kein Shooting Star, dessen Glanz am Dirigentenhimmel rasch verlöschen wird. Andris Nelsons debütierte Ende 2011 mit Kompositionen von Ludwig van Beethoven, Jean Sibelius und Richard Strauss beim Gewandhausorchester. Es folgten Konzerte 2013 und 2014. Seinen nächsten Leipzig-Auftritt absolviert er Anfang Mai 2016 mit einem Gastspiel des Boston Symphony Orchestra. Nur drei Wochen später wird er das Gewandhausorchester an dessen Heimstatt dirigieren – als designierter Gewandhauskapellmeister.