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Sieben Live-Konzerte, 21 Stunden Musik – Dresdner Kritiker im Selbstversuch

halbmarathon

2.10.
15-18 Uhr
Semifinale des Anton-G.-Rubinstein-Klavierwettbewerbs Dresden
Neuer Konzertsaal der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden

Im Gegensatz zu den Vorrunden platzt der Neue Hochschulsaal fast aus den Nähten. Man berichtige mich – aber ich dachte immer, die weißen, den Schall dämpfenden Jalousien wären für Kammerkonzerte gedacht? Warum sie auch heute sämtlich ausgerollt sind und den Finalsatz des wuchtigen Tschaikowski-Konzerts (das Hochschulorchester spielt unter Prof. Ekkehard Klemm) beklemmend dick erscheinen lassen – keine Ahnung.

Das Orchester ist hier auf der stilistischen Kurzstrecke von Solist zu Solist, von Komponist zu Komponist ganz unterschiedlich gefordert, wird den Ansprüchen aber im großen und ganzen gerecht. Ein paar Patzer, ein paar intonatorische Feinheiten in den Holzbläsern, sonst gehen die Studenten munter mit und wachen Ohres auf den Solisten ein.

Also zu den Semifinalisten. Zwei ganz unterschiedliche greife ich heraus: Ana (So Hyong) Cho ist fast dreißig und hat ihr argentinisches Professoren-Diplom im Fach Klavier bereits in der Tasche. In der Vorrunde hatte sie eine Rubinstein-Sonate gestemmt: viele, viele Noten, aggressive Arpeggien und virtuose Läufe, die der Komponist immer mal ratlos ins Leere laufen lässt. Eine Linie da hineinzubringen, war schwer und gelang Cho nicht recht. Bruchstückhaft erschien dieser Rubinstein, die Sätze zogen sich hin. Fürs Semifinale hatte sie sich Tschaikowskis b-Moll-Konzert herausgesucht. Leider patzte sie dann gleich in der Eingangskadenz: unter welcher enormen Anspannung die Teilnehmer stehen, wurde hier deutlich. Gehetzt klang vieles, die wichtigen Oktavsprünge im Finalsatz gingen auch daneben. Schade!

Selbstbewusst schritt danach Alexej Gorlatch auf die Bühne, begrüßte ernsthaft das Orchester und schritt zur Tat: Beethovens „Emperor“-Konzert, das fünfte. Glockenrein die Diskant-Läufe, technisch sehr sauber das gesamte Werk, vielleicht ein bisschen übertrieben die Akzente, aber sonst? Reif für die CD-Einspielung! Das Publikum freute sich, bravohte, trampelte. Es würde mich wundern, den gerade Einundzwanzigjährigen morgen nicht im Finale wiederzutreffen.

2.10.
20 Uhr
Dresdner Sinfoniker: „El Dorado“
Festspielhaus Hellerau

Wie soll man die neue Komposition „turn“ von Linda Buckley, ein Auftragswerk für Hellerau, bewerten? Zugegeben: es waren enge technische Grenzen, die die kümmerlichen Rahmenbedingungen für das Werk vorgaben: mit 300-400 Millisekunden „Verzug“ zwischen Venedig und Hellerau lässt sich kein rhythmisch ambitionierter Blumentopf gewinnen. Einzig möglich waren breite Klangteppiche, harmonisch in einander fließende Schwebungen. Kaum, dass die Instrumentalisten vom Ensemble Ex novo aus Venedig überhaupt einmal hörbar wurden; wenn, dann waren die Klänge knacksig, verzerrt, wie aus dem Jenseits. Eine nette Idee, das Werk mit einem vorproduzierten Video anzureichern, allein: die nur unzureichend zu nennende Realisierung der Ursprungsidee, zwei Ensembles live miteinander musizieren zu lassen, wurde dadurch nur noch deutlicher. Freundlicher Applaus und ein kleiner Blumenstrauß für die Komponistin.

Mit welcher spirituellen Macht wartet dagegen Awet Terterjans Dritte Sinfonie (1974/75) auf! Das große (europäische) Orchester wurde angereichert mit armenischen Instrumenten; Obertonmusik mischt sich in aggressives Geknurr der zwölf Hörner; die Streicher fließen hunderstimmig übereinander; die Schlagzeuger leisten meisterhaftes. Sehr innige Passagen mit ganz wenigen Instrumenten wechseln mit wuchtigen Bläsertutti, polyrhythmisch-hastig vorübereilende Takte werden von fast stillstehenden Figuren, in denen die Ewigkeit anklingt, abgelöst. Verdienter, langer Beifall für die Dresdner Sinfoniker. Hoffentlich war kein EU-Kommissar, der sich mit Lärmschutzgrenzen auskennt, im Saal.

2.10.
22 Uhr
Dresdner Sinfoniker: Live-Act
Festspielhaus Hellerau, Lounge

Entspannte Stimmung, die Sandwiches sind gut, bisschen Müdigkeit macht sich breit. Der Live-Act der Sinfoniker (Sebastian Scobel, Keyboards; Tom Götze, Bass; Harald Thiemann und Heiko Jung, Drums & Percussion) klingt ein bisschen nach 0815. Ein paar gute Passagen, picking guitar, sympathische Harmonien, kontrollierte Drum-Exzesse; in Arno Schmidts »Schule der Atheisten« hieße das: „da waren ein paar gute alte Klanggruppen darunter!“
Ich glaube, wir gehen lieber ins Bett. Morgen wird ein langer Tag 😉

3.10.
11 Uhr
Finale des Anton-G.-Rubinstein-Klavierwettbewerbs Dresden
Semperoper

Alexej Gorlatch enttäuscht nicht: souverän wiederholt er die sehr gute Leistung von gestern, räumt neben dem ersten Preis des Rubinstein-Wettbewerbs (8.000 Euro) gleich noch den Publikumspreis (3.000 Euro) ab. Die achtzehnjährige Maria Derevyagina kann mit den zweiten Platz (5.000 Euro) und ihrer Leistung als Interpretin des Ersten Klavierkonzerts von Sergei Prokofjew zufrieden sein. Vielleicht ein bisschen ärgern wird sich Hyun-Il Seo (geb. 1983 in Kwang-Ju, Südkorea), der seit 2001 in Dresden studiert und unter den Erwartungen blieb. Sein „Rach 3“ klang zunehmend verspannter, die weiche Melodik des ersten Satzes, für die es Extra-Applaus des Publikums gab (nein, dieses Konzert war noch nicht zuende, das müssten Sie doch noch aus dem Film wissen!), mündete in stockende Akkorde, eine kleinmütige Schlacht der Töne. Hörbar haben die Wettbewerbsrunden hier ihren Erschöpfungstribut gefordert. Vier Jahre bleiben ihm noch bis zur magischen Altersgrenze, oberhalb derer Preise in internationalen Wettbewerben selten werden.

Ob sich Grit Schulze da an ihre eigene Hochschulzeit zurückerinnerte? Die ausgebildete Fagottistin wirkte bei ihren Anmoderationen nervös, ihre Höflichkeitsfragen an Wettbewerbsleiter Hans-Joachim Frey und die Gewinner des Wettbewerbs trugen nicht gerade zu einem dynamischen Ablauf der Veranstaltung bei. Insgesamt wirkte der Vormittag recht improvisiert, der als Hauptpreis angekündigte Blüthner-Flügel wurde offenbar dieses Jahr doch nicht ausgereicht (die Krise?). Dafür plant Frey nächstes Jahr ein Konzert mit den bisherigen vier Wettbewerbsteilnehmern (lasst mich raten: im schönen Städtchen Dippoldiswalde), und die Oscar und Vera Ritter-Stiftung kündigte eine Erhöhung des ausgereichten Preisgeldes an.

Dass das ausrichtende Forum Tiberius momentan alle verfügbaren Kräfte auf eine erfolgreiche Durchführung des anstehenden Weltkulturforums richtet, war der unzureichenden Öffentlichkeitsarbeit der diesjährigen Rubinstein-Ausgabe (keine Presseeinladungen, keine Gespräche, keine Infos, Kartenbestellungen liefen ins Leere) deutlich anzumerken, dazu hätte es der nämlichen Ankündigung in der Pressemappe nicht bedurft, die immerhin außerdem eine Information zu den Semifinals enthielt. Kluge Worte von Alexej Gorlatch: kurzfristige Schwankungen der Qualität gebe es immer, es komme deswegen bei der pianistischen Ausbildung vor allem auf eine hochklassige Basis an. Die fehlt dem chronisch unterfinanzierten Forum eben. Schade, und: wieder ein zweifelhafter Nachgeschmack, Fragen bleiben. Wo soll, wo will der Anton-G.-Rubinstein mit seiner fünften Ausgabe 2011 qualitativ hin?

3.10.
17-1 Uhr
TonLagen: „Symposion“ ein Rausch in acht Abteilungen
Festspielhaus Hellerau, Großer Saal

Ein Symposion ist eine herrliche Sache – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Herren der Schöpfung räkeln sich – zu zweit! – auf bequemen Liegen und lassen sich gepflegt vollaufen: wer sich blöd säuft, wird ausgeschlossen. Dazwischen die Lustknaben, die die Worte ihrer älteren Liebhaber aufschnappen und hie und da zu Willen sind.

19 Uhr. Die ersten vier Weine habe ich intus, das vierte musikalische Werk – ein wunderschönes Septett von Igor Strawinsky (1953) – erklingt gerade auf der Bühne. Während die stummen Diener hinten die langen Tafeln frisch eindecken, lauschen die vielleicht 60 teilweise auch weiblichen Gäste stumm – und damit ganz unsymposiantisch – der Musik. Einen amerikanischen Tanzkritiker hat es zufällig hierher verschlagen. Er trinkt keinen Tropfen und wird wohl in vier, fünf Stunden der einzige sein, der noch ohne Hilfe gehen kann… 😉

20.30 Uhr. Die Musiker spaßen in der Lounge. Bernhard Lang – „schritt 3“ für solo Akkordeon – ein Wahnsinnsstück! Der achte (?) Wein – ein 1999 Riesling – ähnlich faszinierend. Ich muß unbedingt ein zweites Glas davon trinken. Während ich im Hintergrund schreibe, nähert sich der „Symposiarch“. Sofort aufhören diese moderne Technologie zu bedienen! Morgen weiterbloggen. Ansonsten droht Rausschmiß. Ich gehorche. Die Meerbarbe Schulter an Schulter mit einem Altphilologen, der erklärt, wie man sich bei einem Symposion möglichst anmutig erbricht. Guten Appetit.

22.30 Uhr. Pünktlich zum „kross gebratenen roten Meerbarbenfilet mit Kichererbsensalat“ hat sich nun auch Theaterkater Roman eingefunden. Helmut Lachenmanns „Gran Torso“ – Knarzen und Knacksen des Streichquartett, dann minutenlang völlig lautloses Streichen des Bogens auf dem Saitenhalter – vertreibt ihn offenbar wieder.

23 Uhr. Conlon Nancarrows „Trio Nr. 1“ von 1943 ist wohl das älteste Werk heute abend. Mechanisches Hämmern des Pianisten, das erinnert schon sehr an die späteren Klavierwerke des amerikanischen Sonderlings. Der Pianist verblättert sich. Hat der etwa getrunken?

23.30 Uhr. Verbrüderungsszenen. Fremde Menschen schlagen sich laut lachend gegenseitig auf die Oberarme. Freundliches Einerlei im Kopf. Hätte ich von dem köstlichen „Riesling Zöbing 1999, Weingut Neumayer“ doch nicht mehrere Gläser…? Der Symposiarch lacht gutmütig, der Gott Morpheus zwinkert mir zu, sitzt da oben im Gebälk des Tessenow…

0.30 Uhr. schnarch…

1.15 Uhr Lauter Applaus. Meine Güte, schon zu Ende? Verdammt, ich habe wohl das schönste Werk des Abends, Terry Rileys „In C“, verpasst! Und – nicht minder schlimm – den letzten und sechsten Gang, „Karamellisierte Zwetschgen- und Quittentarte mit Vanille-Mohnsauce“. Aaargh…

1.25 Uhr. Jetzt noch Bus fahren? Ne. (hcksss) Ich entere einen der bereitstehenden Phaetons. Die beiden Damen im Fond gickeln. Ob sie mich bis zum Albertplatz mitfahren lassen? Der Fahrer grübelt, er weiß nicht, wo dieser Platz… kein Problem, er wird von den Damen eingenordet. Und dann: „nach Prerow, bitte!“ Na, gute Nachtfahrt. Ich wanke ins Bett.
4.10.
11 Uhr
17. Preisträgerkonzert anlässlich der Preisverleihung der Stiftung zur Förderung der Semperoper
Semperoper

Das siebzehnte Preisträgerkonzert der Stiftung zur Förderung der Semperoper hielt – als wär’s die Fortsetzung des Symposions mit anderen stilistischen Mitteln – gleich weitere musikalische Häppchenkost bereit. In Vorbereitung der anstehenden Händel-Premiere („Giulio Cesare in Egitto“) bot die Staatskapelle unter Thomás Netopil mit Solistin Christa Mayer schon mal einen Vorgeschmack: wie klingt Barockoper auf mordernem Instrumentarium? Wenig überraschende Antwort: nicht sehr barock, zumindest für heutige, mit aufführungspraktischen Feinheiten doch ganz vertraute Publikumsohren. Stimmung hin oder her – ob die Kapelle nicht wenigstens hölzerne Traversflöten probieren sollte? Die heute gebräuchliche Böhm-Flöte bricht aus dem restlichen Klangbild doch recht deutlich aus…

Prof. Gerd Uecker moderierte das bunte Programm mit feinem Humor, erzählte kleine Geschichten zu jedem Werk. Ob zur Untertitelungspraxis der Uraufführung des „Cesare“, zu den (politischen) Farbspielen der letzten Wochen oder den Hintergründen des modernen Balletts – das war hervorragend, und einige Klassen besser als das bemühte Wikipedia-Wissen der Moderatorin des Rubinstein-Finales gestern.

Der diesjährige Christel-Goltz-Preis ging an Markus Butter. „Wie Todesahnung, Dämmrung deckt die Lande“ sang der Preisträger den angereisten Stiftern und Freunden ein Ständchen: „O du, mein holder Abendstern, wohl grüßt’ ich immer dich so gern“. Wir grüßten zurück und gingen zum letzten Marathon-Konzert.

4.10.
15 Uhr
Sonderkonzert Gershwin & Co.
Staatsoperette Dresden

Ein beschwingter Ausklang! Von Ernst Theis wunderbar moderiert (besonders bei Max Buttings „Sinfonietta mit Banjo“ war das bitter nötig – das Publikum wäre sonst sicher ausgestiegen), erklangen Gershwin-Klassiker und als Highlight Paul Hindemiths launisches Hörstück „Sabinchen“. Theis hat dafür die Instrumentation der Ursendung von Plattenaufnahmen rekonstruiert – das Publikum mochte das kurze Ohrentheater, dankte mit rhytmischem Klatschen. Bis an die Grenzen des Materials ging auch Roland Batik am kleinen Försterflügel in Gershwins „Rhapsody in Blue“: beim schwungvollen Schlußakkord verabschiedete sich das Pedalgestänge, der Ton klang lang aus… Ein bisschen Gelächter, bis zur Zugabe war alles repariert, der Solist kroch dazu höchstpersönlich unter den Flügel. Und dankte für den einhelligen Applaus in Gulda’scher Manier mit einer klassischen Dreingabe, dem Allegro-Satz der ersten Haydnschen Klaviersonate. Ein passender Abschluss für diesen polystilistischen Marathon! Und auf zum nächsten Konzert, heute abend in Hellerau. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal rezensiert werden.