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Zucker!

Nicht die Frühjahrsmüdigkeit ist an der Verspätung meiner Kolumne schuld: es war eine Frühjahrserkältung, und die hat mich erwischt auf der Reise von Ludwigshafen zurück nach Dresden. Warum musste ich auch nach Ludwigshafen reisen! Ich musste, denn ich wollte die vielgelobten Tänzerinnen und Tänzer des berühmten New York City Ballet erleben. Bei ihrem Gastspiel, erstmals wieder nach mehr als 30 Jahren in Deutschland, machte diese legendäre Kompanie nicht etwa Station in Stuttgart, Hamburg, Berlin oder vielleicht auch Dresden, nein es gab zwei Abende in Ludwigshafen und zwei Abende im Festspielhaus von Baden Baden, dann ging´s schon wieder zurück. Also gut, Ludwigshafen, ich war da. Erkältung hin oder her.

Ich war ja ein wenig skeptisch. Wenn man so viel gehört hat, wenn die Erwartungen so hoch sind, dann ist es ja gar nicht so leicht, sich noch überraschen zu lassen, vor allem ist es nicht so leicht, nicht doch herumzumäkeln. Ich mäkle nicht. Ich übertreibe auch nicht, wenn ich sage, dass ich jetzt schon weiß: am Ende dieses Jahres wird dieser Abend in Ludwigshafen in der Rückschau für mich zu den Höhepunkten des Tanzjahres 2012 gehören.

Dabei präsentierten die New Yorker – etwas salopp gesagt – lauter alte Hüte. Sie zeigen Choreografien ihrer Hausheiligen, von George Balanchine, der die Kompanie 1948 gegründet hatte, und von Jerome Robbins, der ein Jahr später als Choreograf dazu kam. Aber, und das macht diesen Abend so außergewöhnlich, das Besondere wird mit der schönsten Selbstverständlichkeit der Welt präsentiert. Gekonnt ist gekonnt, da wird gar nicht viel Aufsehen gemacht, da gibt’s keine Diskussionen, ob das alles so zeitgemäß ist oder nicht. Kunst hat eben doch viel mehr mit Können als Konzepten zu tun – an diesem Abend wird das klar, und die Maßstäbe werden mal wieder ins Bewusstsein gebracht.
Mit verblüffender Leichtigkeit, mit geradezu ansteckender Freude und vor allem immer wieder mit einem so herzerfrischenden Schuss Humor, bisweilen sogar Übermut, wird hier gar nichts aufpoliert, sondern werden Stücke, die mitunter schon vor 50 Jahren kreiert wurden, so dargeboten, als wohnten wir einer Erstaufführung bei.

Natürlich ist das alles exakt. Natürlich sind die Techniken der Sprünge und Pirouetten, die Hebungen, sie Symmetrien und die Beziehungen zum Raum, nicht zu vergessen die Musikalität, über jeden Zweifel erhaben. Aber das alles könnte ja auch kalt und herzlos sein und gängige Vorurteile gegenüber dem klassischen und neoklassischen Tanz bestätigen. Es ist aber eben alles andere als kalt und herzlos, im Gegenteil; der Herzlichkeit dieser Tänzerinnen und Tänzer, ihre spürbaren Freude darüber uns mit ihrem Können zu erfreuen, kann man sich einfach nicht entziehen. Es ist schon was Besonderes, die so unaufgeregte Eleganz der Damen, die so sanften Landungen der fliegenden Herren. Ich gebe zu, das war ein Höhenflug. Wenn ich daran denke, hebe ich noch immer ab, und werde mich doch voller Neugier auf die nächste Fahrt begeben, denn die nächste Feier steht an.

Am Freitag gibt es einen Festakt in der Staatlichen Ballettschule Berlin. Geehrt wird aus Anlass seines 85. Geburtstages Deutschlands dienstältester Ballettkritiker, Horst Koegler, kurz „oe“. Der streitbare Herr aus Stuttgart wird an diesem Tag das tanzende Berlin der Fünfziger Jahre lebendig werden lassen. „Erinnerungen an mein Berlin“ heißt sein angekündigter Beitrag. Wenn der Experte aus Neuruppin, Opernregisseur in Görlitz, Journalist in Berlin, Weltreisender in Sachen Tanz, viele Jahre Musikredakteur der Stuttgarter Zeitung, internationaler Autor und Herausgeber, vor allem exzellenter Begleiter des Stuttgarter Balletts, nicht nur seinen Geburtstag in Berlin feiert, nicht nur über Berlin sprechen wird, sondern auch noch seine einzigartige Bibliothek – die schon jetzt „Horst-Koegler-Bibliothek“ heißt – der Ballettschule in Berlin übergibt, dann kann das alles nicht ohne Absicht geschehen. Da ist was im Busch. Und wie „oe“ immer für eine Überraschung gut ist, wird er sich und uns am Freitag in Berlin wohl auch eine bescheren. Sie werden es von mir erfahren. Ein Vorgeschmack? Vor ein paar Wochen hat sich der alte Herr mal wieder einen makaberen Scherz geleistet. Er schickte an die Redaktion einer der größten deutschen Tageszeitungen eine Todesanzeige. Er sprach darin seiner Kollegin dieser Zeitung, mit der er beständig auf „Spitztentanzkriegsfuß“ steht, sein tief empfundenes Beileid aus, weil sie das Leid auf sich genommen hatte, der jüngsten Uraufführung eines nunmehr 70jährigen Choreografen in Hamburg beizuwohnen und diese natürlich nicht so gut zu finden wie „oe“.

Also, ich kann mich nur freuen auf eine sicherlich illustre und ganz bestimmt heiter-ironische Geburtstagsfeier in Berlin samt Aufklärung darüber, warum die ganze Bibliothek nicht besser in Stuttgart bleibt, etwa in der demnächst zu eröffnenden neu gebauten John-Cranko-Ballettschule. Aber das wird bestimmt die nächste Geschichte mit Galgenhumor und weisem Alterswitz.

Herzlich, bis Montag,
Boris Gruhl