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Zum 100. Geburtstag eine neue Adresse

Man könnte meinen, über Gustav Mahler sei alles gesagt. Vieles auch mehrfach, darunter manch Widersprüchliches, aber Geheimnisse um den 1911 mit nicht mal 51 Jahren in Wien verstorbenen Meister gab und gibt es nach wie vor. Allein die wahre Todesursache – sind es das Herz und ein bakterieller Infekt gewesen, waren es die eigensüchtige Untreue des Eheweibs Alma und deren Affäre mit Walter Gropius, krankte der Tonsetzer am Particell seiner nicht fertiggestellten 10. Sinfonie oder war es die Summe all dieser widrigen Umstände?

Spekulationen darüber sollen anderen überlassen bleiben. Ein gewichtiges Kompendium namens „Mahler in Leipzig“, rechtzeitig zur grandiosen Mahler-Feier des Gewandhausorchesters mit einem internationalen Festival (und der Aufführung aller Sinfonien durch immerhin zehn Weltklasse-Orchester!) erschienen, beschränkt sich wohlweislich auf das, was der Titel verspricht. Mahler in Leipzig. Dort war der einzigartige Tonsetzer, mit dem auch unmusische Zeitgenossen zumindest den grandiosen Streifen „Tod in Venedig“ von Luchino Visconti verbinden, zwei Jahre lang (1886-88) Kapellmeister am Stadttheater und begann seine Karriere als Sinfoniker. Denn die 1. Sinfonie, die den Beinamen „Der Titan“ nach dem Roman von Jean Paul nie mehr loswerden sollte, entstand an der Pleiße.

Mehr als das eigene Wirken Gustav Mahlers in Leipzig war es später die Pflege seines Werks durch Größen wie Arthur Nikisch (seinem einstigen Rivalen), Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter, die das Werk dieses Meisters in der Stadt etablierten. Anderenorts tat sich da das Werk dieses gravitätischen Klangpoeten teilweise noch schwer. Spätere Kapellmeister des Gewandhausorchesters bis hin zu Riccardo Chailly, dem heutigen Amtsinhaber, setzten diese Ur-Tradition fort, inzwischen längst auch mit mustergültigen Einspielungen.

Das von Gewandhausarchivar Claudius Böhm herausgegebene Kompendium stützt sich vor allem auf die 2005 beendete und für dieses Buch noch einmal gründlich überarbeitete Magisterarbeit von Sonja Riedel, die jahrelang die Pressearbeit der Oper Leipzig verantwortete. Sie hat beispielsweise herausgefunden, dass die überlieferte erste Leipziger Anschrift von Gustav Mahler, Gottschedstraße 4, nicht mit der gleichlautenden Adresse von heute übereinstimmt. Vielmehr ist Mahlers einstiges Domizil seit 1934 als Nr. 25 bezeichnet. Bislang war das niemandem aufgefallen, nun kam heraus, dass Mahler unter demselben Dach logiert hat wie nur sechs Jahre nach ihm der spätere Möbeltischler und Mauerbauer Walter Ulbricht. Der wurde 1893 in diesem Haus geboren – und 1899 wohnte dort für wenige Monate der Student Gustav Stresemann, künftiger Reichskanzler, Reichsaußenminister (und Friedensnobelpreisträger!). Wenn Wände reden könnten …!

Der Band aber kann es. Obwohl Mahler nur etwa zwei Jahre in Leipzig verbrachte, war dies doch eine sehr wesentliche Zeit für den Musiker und Komponisten. Erstmals wurde er einigermaßen berühmt als Dirigent fremder Werke (Carl Maria von Webers Oper „Die drei Pintos“), erstmals schuf er selbst ein sinfonisches Werk (die genannte 1. Sinfonie „Titan“), erstmals wurde ein Werk aus seiner Hand auch gedruckt, erstmals dirigierte er Richard Wagner („Siegfried“) und erstmals begegnete er bewunderten Mitstreitern wie Ferruccio Busoni, Richard Strauss und Peter Tschaikowski. Auch die ersten „Wunderhorn“-Lieder entstanden in Leipzig. Allemal Grund genug, sich der Leipziger Mahler-Zeit einmal gründlich zuzuwenden. Sonja Riedel hat dies akribisch getan und nicht nur die Erfolge, sondern ebenso all die Querulenzen des charismatischen Künstlers mit seinen Vorgesetzten und Kollegen gründlich beschrieben. Wer „Mahler in Leipzig“ studiert, bekommt ein Stück Musik- und Zeitgeschichte geboten, das obendrein ausführlich mit Bild- und Textmaterial illustriert ist, auch an Verweisen etwa zum seinerzeitigen Antisemitismus nicht spart. Ein Nachschlagewerk, in dem es sich lohnt, gründlich zu stöbern. Denn es bietet tatsächlich Novitäten zu Gustav Mahler und seiner Leipziger Zeit. 

Mahler in Leipzig
360 Seiten, 49,90 Euro
Kamprad Verlag
ISBN 978-3-930550-82-1