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Augen zu und durch – Dresdner „Boris Godunow“ überrascht kaum

Das Publikum feierte Pape, hätte indes das Regieteam lieber gefeuert (Foto: M. Creutziger)

Manchmal senkt sich der Vorhang nach einer Aufführung und man weiß beim besten Willen nicht, was man gesehen hat. Und manchmal hebt sich

der Vorhang – und man weiß schon, was man sehen wird…

Wenn sich der Vorhang zur Dresdner Neuinszenierung der Oper „Boris Godunow“ von Modest P. Mussorgski hebt, dann sehen wir die Damen und Herren des Chores in pittoresker, maßgeschneiderter Armut, auf die es aus dem Bühnenhimmel Müllbeutel regnet. Dass inzwischen die Musik begonnen hat, hört man nicht. Das ist ärgerlich. Dieser Anfang ist die zarte Einstimmung in das musikalische Schmerz- und Schreckensgemälde menschlicher und unmenschlicher Zustände. Das musikalische Fundament, das Musizieren der Staatskapelle, wird den Abend tragen und den Solisten Sicherheit geben, die ihnen die Szene verweigert.

Es raschelt jetzt erst mal modisch im russischen Armenhaus auf der Müllkippe (Bühne: Alexander Lintl). Dass dann der Hoffnungsträger Boris Godunow (René Pape) einen Trainingsanzug unter der goldenen Krönungspracht trägt und später in Lederjacke und Jeans von sonnenbebrillten Sicherheitstypen umstellt agiert, überrascht ebenso wenig wie der Umstand, dass die Bojaren auch vornehmlich Sonnenbrillen tragen und ihre Regierungsgeschäfte in Begleitung schrill bunter Flittchen absolvieren. Komisch ist dann aber doch bei allem vordergründigen Vergegenwärtigungsgewusel, dass Peter Lobert als Polizeioffizier nicht lesen können soll. Woher kommt nur der Hochmut, so einseitige Russlandbilder zu verbreiten?

Gespielt wird als Dresdner Premiere die Erstfassung der Oper von 1869, vier Teile, sieben Bilder, nicht so lang wie spätere Fassungen. In der klischeehaften Regie von Christian Pade aber trotzdem ein bisschen langweilig. Der Regisseur weiß auch etwas, was Mussorgski entweder nicht wusste oder im Hinblick auf die Dramaturgie seiner Oper und den Charakter seines Protagonisten nicht wissen wollte: Boris Godunow war nicht der Mörder des Zarewitschs Dmitrij im Jahre 1591! Das liegt in Pades Inszenierung klar auf der Hand, denn das vom aufgepeitschten Volk in den Tod getriebene Kind wird Boris in die Arme gelegt. Wie dann Geschichte geschrieben, geformt und angewendet wird, zeigt uns ein weiteres Bildungsbild, wenn der Mönch Pimen am Aktenvernichter die Ordnung der Akten richtet, was eine Projektion von schlichtestem Anspruch noch einmal bebildert.

Im zweiten Teil brennt noch Licht im Kreml, die Lampe hängt aber schon bedenklich tief, und die goldene Tapete ist blutverschmiert. Die smarten Zarenkinder (Martin Wölfel und Lin Lin Fan) üben sich im Florettgefecht, dieweil Hanna Schwarz als edle Amme mit oder ohne Gesang deklamiert. Und Boris? Der einsame Mann wendet sich – längst schon ohne Macht- per Videobotschaft an das undankbare Volk, von Wahn getrieben und der Vorstellung, dass Dmitri bald vor den Toren stehe. Vor allem Schuiskij, der Intrigant (mit schneidender Stimme: Wolfgang Schmidt) weiß die Fäden zu führen, die den ohnehin schon wankenden Zaren endgültig zu Fall bringen. Boris Godunow, René Pape als der nette Mann von nebenan, das Opfer einer korrupten „Poltit-Kamarilla“, die offensichtlich alle Wechsel und Veränderungen übersteht, weil sie es vermag, je nach Lage dem Volk einen Retter oder Schuldigen zu präsentieren. Am Ende Wahn und Tod. Der Zar, ein großer Mann, einsam, gebrochen, der Starke gänzlich schwach, und das berührend besungen mit schlanken tiefen Töne.

René Pape wird vom Publikum für seine schlichte Gestaltung im Spiel, für seinen Gesang vor allem, gefeiert und herzlich bei seiner ersten Dresdner Premiere begrüßt. Freundliche Zustimmung gilt dem gesamten Ensemble mit Matthias Henneberg, Markus Marquardt, Tom Martinsen, Christa Mayer, Timothy Oliver, Gerald Hupach und Sangmin Lee sowie der Staatskapelle unter der Leitung von Sebastian Weigle. Viel schöner Klang, viel Ausgewogenheit, weniger Schroffheit oder Betonung provokanter Wendungen in der Musik, die den modernen Operngestus schon anklingen lässt, wesentlich stärker dem Kommentar der Situationen als der melodiösen Überhöhung verpflichtet ist. Auf deutliche Ablehnung trifft das Regieteam für den mehr gedachten als gelungenen Versuch einer Aktualisierung vor allgemeingültigem Hintergrund: weil es vor allem an stringenter Personenführung mangelt, was bei geradezu dilettantischer Organisation der Chorszenen besonders schmerzlich ins Auge fällt.

Boris Michael Gruhl

Eine Textfassung des Artikels ist am 19. Dezember in den Dresdner Neuesten Nachrichten erschienen. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, ihn hier erneut abdrucken zu dürfen.

Nächste Aufführungen: 21.12., 23.12., 26.12., 29.12.08; 03.01., 03.07. 09